Traveler - Roman
Videoausrüstung war eine typische Requisite. Der Portier und der Mann am Empfang dachten vermutlich, sie sei eine Art Filmemacherin.
Thorn hatte eine Suite im zweiten Stock für sie reserviert, dunkel möbliert, mit nachgemachten Jugendstillampen und plüschigen Sesseln. Von einem Fenster blickte man auf die Straße, vom anderen auf die Restauranttische im Innenhof des
Hotels. Es regnete immer noch. Der Innenhof war menschenleer. Die gestreiften Sonnenschirme trieften vor Nässe, und die Stühle lehnten wie müde Soldaten an den runden Tischen. Maya sah unter dem Bett nach und fand dort ein kleines Willkommensgeschenk ihres Vaters vor – eine Art Enterhaken mit etwa fünfzig Metern Bergsteigerseil. Sollte die falsche Person an die Tür klopfen, könnte sie innerhalb von zehn Sekunden durch das Fenster geflohen sein.
Sie zog ihren Mantel aus, spritzte sich Wasser ins Gesicht und legte das Stativ aufs Bett. Bei den Sicherheitschecks auf den Flughäfen verwendeten die Kontrolleure immer viel Zeit darauf, die Videokamera und die verschiedenen Linsen zu inspizieren. Dabei waren die Waffen im Stativ versteckt. In einem der Füße befanden sich zwei Messer – ein relativ schweres Wurfmesser und ein Stilett, mit dem sie schnell zustechen konnte. Sie steckte die Messer in ihre Scheiden und schob sie unter die elastischen Binden, die sie um ihre Unterarme gewickelt hatte. Sorgfältig rollte sie die Ärmel ihres Pullovers hinunter und betrachtete sich im Spiegel. Der Pullover war so weit, dass von beiden Waffen nichts zu sehen war. Maya kreuzte die Hände, machte eine ruckartige Armbewegung, und schon hatte sie in der rechten Hand ein Messer.
In dem zweiten Fuß des Stativs befand sich die Schwertklinge. Im dritten verbargen sich Griff und Stichblatt. Maya befestigte beides an der Klinge. Man konnte das Stichblatt zur Seite drehen, bis es sich in einer Linie mit der Klinge befand. Das machte es viel einfacher, die Waffe in der Öffentlichkeit bei sich zu tragen. War ein Kampf mit dem Schwert unvermeidbar, musste man das Stichblatt nur rasch in die normale Position zurückdrehen und einrasten lassen.
Zusätzlich zu dem Stativ und der Kamera hatte sie noch eine ein Meter zwanzig lange Metallröhre mit Schultergurt dabei. Die Röhre sah aus, als gehörte sie einem Künstler, der darin zusammengerollte Bilder transportierte. Maya benutzte
es, um ihr Schwert überallhin mitzunehmen. Sie brauchte nur zwei Sekunden, um es aus der Röhre zu holen, und eine weitere, um angriffsbereit zu sein. Ihr Vater hatte ihr in ihrer Jugend beigebracht, wie man mit dem Schwert kämpft, und sie hatte ihre Technik durch Kendo-Kurse bei einem japanischen Lehrer verfeinert.
Ein Harlequin lernte zusätzlich den Gebrauch von Handfeuerwaffen. Maya benutzte am liebsten ein automatisches Gewehr, möglichst Kaliber 20, mit Pistolengriff und abklappbarer Schulterstütze. Gleichzeitig ein altmodisches Schwert sowie moderne Waffen zu benutzen, wurde als Teil des typischen Kampfstils der Harlequins akzeptiert und geschätzt. Schusswaffen waren ein notwendiges modernes Übel, Schwerter hingegen gab es schon seit Jahrhunderten. Sie existierten außerhalb der Gegenwart, waren der Kontrolle des Systems entzogen. Durch das Schwerttraining lernte man Körperbeherrschung, strategisches Handeln und Unbarmherzigkeit. Das Schwert des Harlequins verband diesen, genau wie der Kirpan den Sikh, sowohl mit seinem spirituellen Erbe als auch mit der kriegerischen Tradition, in der er stand.
Thorn war zudem der Ansicht, dass praktische Gründe für ein Schwert sprachen. Wenn man es in einem Gegenstand wie einem Stativ versteckte, kam man damit problemlos durch den Sicherheitscheck am Flughafen. Ein Schwert war geräuschlos, und man konnte damit so schnell zuschlagen, dass man einem Feind meist das Überraschungsmoment voraushatte. Maya spielte in Gedanken einen Angriff durch. Erst einen Hieb zum Kopf des Gegners vortäuschen und ihn dann seitlich am Knie treffen. Kaum Gegenwehr. Das Geräusch zerbrechender Knochen und Knorpel. Und schon hatte man ein Bein abgeschlagen.
In der Mitte des aufgerollten Fluchtseils lag ein brauner Umschlag. Maya riss ihn auf und las Zeitpunkt sowie Adresse ihres Treffens. Sieben Uhr. In der Altstadt nahe des Betlémské
Náměsti. Sie legte das Schwert auf ihren Schoß, schaltete das Licht aus und versuchte zu meditieren.
Bilder huschten ihr durch den Kopf, Erinnerungen an den einzigen Kampf als Harlequin, bei dem sie auf sich allein
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