Traveler - Roman
Geschäft für Sanitärbedarf und einem Dessousladen, in dem eine Schaufensterpuppe einen Strapsgürtel und mit Pailletten besetzte Strümpfe präsentierte. Über dem Erdgeschoss gab es noch zwei Etagen, und alle Fenster dort oben hatten zugezogene Rollläden oder graue Milchglasscheiben. Die Wohnung eines Harlequins hatte immer mindestens drei Ausgänge, einer davon ein geheimer. Dieses Haus besaß die rote Vordertür und garantiert eine Hintertür. Außerdem gab es wahrscheinlich einen Geheimgang, der in dem Dessousladen endete.
Sie öffnete die Verschlusskappe des Schwertbehälters und neigte ihn ein wenig nach unten, sodass der Schwertgriff einige Zentimeter herausrutschte. Die Aufforderung, sich nach Prag zu begeben, war ihr auf die übliche Weise übermittelt worden: Jemand hatte ein unbeschriftetes Kuvert unter ihrer Wohnungstür hindurchgeschoben. Sie hatte keine Ahnung, ob Thorn noch am Leben war oder was sie in dem Haus auf
der anderen Straßenseite erwartete. Sollten die Tabula herausgefunden haben, dass sie vor neun Jahren die Morde in dem Hotel begangen hatte, wäre das Nächstliegende, sie ins Ausland zu locken, weil man sie dort leichter hinrichten konnte.
Maya überquerte die Straße und sah sich das Schaufenster des Dessousladens genauer an. Um ihre zunehmende Anspannung loszuwerden, hielt sie nach einem der traditionellen Zeichen eines Harlequins Ausschau, beispielsweise einer Maske oder einem Stück Stoff mit Rautenmuster. Langsam ging sie den Bürgersteig entlang und entdeckte schließlich eine Kreidezeichnung auf dem Beton. Ein Oval und drei parallele Linien: die abstrakte Darstellung einer Harlequin-Laute. Jemand, der für die Tabula arbeitete, hätte sich um möglichst große Ähnlichkeit mit dem Musikinstrument bemüht. Stattdessen wirkte die halb verwischte Zeichnung hingekritzelt – so als stammte sie von einem gelangweilten Kind.
Maya klingelte, hörte ein surrendes Geräusch und sah, dass unter dem metallenen Vordach eine Überwachungskamera angebracht war. Die Tür öffnete sich klickend, und Maya ging ins Haus. Sie betrat eine kleine Eingangshalle, die an einer steilen Eisentreppe endete. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss und wurde ferngesteuert mit einem zehn Zentimeter dicken Bolzen verriegelt. Doch eine Falle? Maya zog ihr Schwert, ließ das Stichblatt einrasten und stieg die Treppe hinauf. Am oberen Ende der Treppe befand sich eine Stahltür und ein weiterer Klingelknopf. Sie drückte ihn, worauf aus einem kleinen Lautsprecher eine Computerstimme ertönte.
»Stimmenmuster bitte.«
»Fahr zur Hölle.«
Es dauerte drei Sekunden, dann öffnete sich auch diese Tür. Maya betrat ein großes Zimmer mit weiß gestrichenen Wänden und poliertem Holzfußboden. Es war sauber und spärlich möbliert. Keine grellen Farben, kein Plastik, nichts Unechtes. Eine Wand, halb so breit wie der Raum, trennte den Eingangs-
vom Wohnbereich. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einem Ledersessel und einem gläsernen Couchtisch, auf dem eine Vase mit einer einzelnen gelben Orchidee stand.
An den Wänden hingen zwei gerahmte Poster. Eines war das Plakat einer Ausstellung japanischer Samuraischwerter im Nezu Museum der schönen Künste in Tokio: Weg des Schwertes, Leben eines Kriegers. Das zweite Poster zeigte das 1914 entstandene Kunstwerk Trois Stoppages-Étalon des Franzosen Marcel Duchamp. Duchamp hatte drei genau einen Meter lange Fäden auf eine preußischblaue Leinwand fallen lassen und ihre Umrisse nachgezeichnet. Genau wie ein Harlequin hatte er nicht gegen den Zufall und das Ungewisse angekämpft. Er hatte beides für seine Kunst benutzt.
Maya hörte Schritte nackter Füße, und dann trat ein junger Mann mit geschorenem Kopf ein, der eine deutsche Maschinenpistole in der Hand hielt. Er lächelte. Die Mündung seiner Waffe war schräg nach unten gerichtet. Sollte er so dumm sein, sie zu heben, würde Maya einen Schritt nach links machen und ihm einen Schwerthieb ins Gesicht versetzen.
»Willkommen in Prag«, sagte er in Englisch mit russischem Akzent. »Ihr Vater kommt gleich.«
Der junge Mann trug eine Sporthose und ein ärmelloses, mit japanischen Schriftzeichen bedrucktes T-Shirt. Etliche Tätowierungen zierten seine Arme und seinen Hals. Schlangen. Dämonen. Ein Höllenszenario. Sie brauchte ihn nicht nackt vor sich zu sehen, um zu wissen, dass er eine Art wandelndes Epos war. Harlequins schienen sich stets Außenseiter oder Freaks als Diener zu suchen.
Maya schob ihr Schwert
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