Treibgut - 11
dagegen unternehmen können.
Während der Wochen auf See hatte sich Scheïjian an sein Wissen gewöhnt, und seine anfängliche Erregung war abgeklungen. Doch sie kehrte in voller Stärke zurück, kurz bevor er den Tuzaker Tempel betrat, die Erregung und ein düsterer Schatten. Auch dieses Mal empfing ihn die Kindpriesterin wieder allein.
In ernstem Schweigen folgte Milhibethjida dem Bericht ihres Besuchers. Ihr entging nicht, daß die Schilderungen bisweilen lückenhaft waren oder Teile davon in vieldeutiger Verschwommenheit verblaßten. Sie stellte keine Fragen nach solchen Auslassungen, denn es gab viele Dinge, die sie von keinem Mitglied der mörderischen Bruderschaft erfahren wollte – trotz des gegenwärtigen Bündnisses. Als der Besucher vom Tod der Priesterin Xanjida berichtet hatte, schlug sie einen Gong. Ein Adept erschien, zu dem sie sprach: »Bring uns das Buch der Abwesenden des verstrichenen Jahres, denn Xanjida, unsere Schwester, weilt nicht mehr unter uns. Vergiß nicht, es dem Hohen Bruder zu berichten, damit er bestimmt, wer ihren Tod betrauern und ihre Wiederkehr ersehnen soll.«
Der Priester verschwand und brachte alsbald das Gewünschte. Neugierig beobachtete Scheïjian, wie Milhibethjida den Namen der Priesterin in die Seiten des Buches eintrug und einige Symbole daruntersetzte. Das Buch der Abwesenden war mehr als eine Liste der Verstorbenen Tuzaks, denn die Anordnung der über die Seiten verstreuten Namen war nicht willkürlich, wie es auf den ersten Blick wirkte, sondern schien einem Schema zu folgen. Damit bestätigte sich das Gerücht, nach dem die Priester diese Eintragungen mit denen im Buch der Anwesenden verglichen, in welchem die Neugeborenen Tuzaks eingetragen wurden, um Erkenntnisse über die Wechsel von Tod und Wiedergeburt zu gewinnen. Scheïjian wußte nicht, ob diese Mühen jemals von Erfolg gekrönt gewesen waren. »Fahr fort«, ermunterte ihn Milhibethjida, während sie schrieb.
Als er zu der neuen Auflösung des 64. Draijsch kam, blickte sie auf. »Wir werden viel Zeit benötigen, um die Bedeutung zu verstehen – Zeit, die wir nicht haben, aber aufbringen müssen, um keinen Fehler zu begehen.«
Scheïjian schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist schneller möglich. Nicht der Amran Thjemen ist gemeint, wie du glauben magst und wie ich es zuerst auch tat.«
Sie sah ihn neugierig an. »Es scheint sich gelohnt zu haben, daß diese junge Schwester dir eine Lehrstunde verabreichte. Irrt sie, oder gibt es zwei Lösungen? Ich hatte es gehofft, da ich mich fragte, warum du ihr diese Kartenrolle mitgebracht hast. Wenn ja, warum ist es nicht der Berg?«
Scheïjian wiederholte nachdrücklich: »Es ist nicht der Thjemen.«
Milhibethjidas Mimik wurde ausdruckslos: »Offenbar nicht. Ich will nicht weiter in dich dringen. Du wirst deine Gründe haben, Scheïjian von Tarschoggyn. Also werde ich dich nicht fragen, wem du eigenmächtig den Thjemen überließest und wer dich begleitet haben mag. Nenn mir den anderen Ort.«
Scheïjian sah überrascht in das kleine Gesicht und entrollte die Karte. Er hatte ihr nichts von einer Begleitung erzählt.
»Ich habe viel Zeit gebraucht, um die wirkliche Bedeutung zu verstehen. Sag mir, Schwester, was ist die Mitte des Weltendiskus?«
»Die Mitte eines Kreises«, antwortete Milhibethjida.
»Ja«, bestätigte Scheïjian, »die Mitte eines Kreises.«
Er nahm den Faden von Ishajids Gewand, drückte das eine Ende mit dem Daumen auf eine Stelle des Plans, bewegte das andere und zeigte der Priesterin, was er vor Wochen herausgefunden hatte.
»Sieh genau hin, Schwester«, forderte er sie ernst und ergriffen auf. »Jergan, Boran, Tuzak. Die drei Städte liegen genau auf dem Rand eines Kreises! Mit Mitte ist nicht die Mitte des Dreiecks Jergan-Boran-Tuzak gemeint, sondern der Mittelpunkt der Kreisscheibe, auf deren Rand die Städte liegen. Das ist der Ort, den ihr suchtet.«
Milhibethjida sah dahin, wo Scheïjians Daumen ruhte, zu den Ausläufern des Raschtulswalls. Sie sprang auf und wanderte aufgeregt und leicht hüpfend im Raum herum, wie das kleine Mädchen, das sie eigentlich war. »Es paßt, es paßt! Ist dir bewußt, Scheïjian, daß du vielleicht noch mehr gefunden hast, als du weißt? Die Beni Rurech waren ein Ferkinastamm, der irgendwo aus dem Raschtulswall kam. Mich würde nicht wundern, wenn dieser Ort, den du gefunden hast, ihre ursprüngliche Heimat war, von der sie aufbrachen und zu der die Erwählten zurückkehren
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