Treibgut
Sendung zu besorgen. Wissen Sie noch, wann und auf welchem Kanal die Sendung lief?«
Das Lächeln, das über ihre verhärmten Züge huschte, ließ etwas von der gut aussehenden Frau erahnen, die Elena früher gewesen sein musste. Sie zog ein sorgsam gefaltetes Stück Papier hervor, das sich als herausgerissene Seite einer Programmzeitschrift erwies. Ein roter Kringel markierte die Sendung. Sie schob es über den Tisch und bemerkte wie beiläufig: »Ich habe gehofft, Sie würden mir diesen Vorschlag machen.«
Bevor sie noch mehr Hoffnung schöpfen konnte, hob Henning abwehrend die Hände. »Warten wir’s erst mal ab. Bis jetzt habe ich den Mitschnitt nicht. Und selbst wenn ich ihn beschaffen kann, bedeutet das längst nicht, dass es sich bei dem Kind tatsächlich um Ihre Tochter handelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass zwei Menschen sich gleichen wie ein Ei dem anderen.«
Elena begann unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Mehr noch als der Satz ›Ich weiß, dass es Lea war!‹, verriet ihm der Anblick ihrer hängenden Schultern und ihres zitternden Kinns das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung.
4
Beim Verlassen der Klinik traf ihn die Kälte mit voller Wucht. Doch es waren es nicht nur die eisigen Temperaturen, die ihn frösteln ließen. Elena hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Henning hätte alles dafür gegeben, ihre Vermutung bestätigen zu können. Aber er wusste auch, wie verschwindend gering die Chancen dafür standen. Zu vieles sprach dagegen.
Trotzdem wollte er nichts unversucht lassen. Henning sah auf seine Armbanduhr: Kurz nach drei. Wenn er zügig vorankäme, könnte er noch vor Einbruch der Dunkelheit an der Unglücksstelle sein, um sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen. Er hatte diesen Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, als der Verkehr plötzlich ins Stocken geriet. Obwohl die neue Strelasundquerung in Riesenschritten ihrer Vollendung entgegenging, führten die damit verbundenen Bauarbeiten zu gelegentlichen Staus vor dem Rügendamm. Zudem stand Weihnachten vor der Tür. Dass es in diesem Winter kein einziges Mal geschneit hatte und laut Prognose der Meteorologen für das bevorstehende Fest nicht mit Schnee zu rechnen war, schien der Kauflaune keinen Abbruch zu tun. Im Gegenteil: Die Weihnachtsmärkte boomten auch ohne weiße Pracht. Allein der Gedanke an das dort herrschende Gedränge verursachte in Henning Platzangst. Um bei ihm Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen, brauchte es schon etwas mehr als den Duft von Glühwein und Lebkuchen.
Als der Rügendamm endlich hinter ihm lag, dämmerte es bereits. Er würde seinen Ausflug zu den Kreidefelsen auf den nächsten Tag verschieben müssen. Wie ärgerlich!
Wieder zu Hause rief er Marlies an, um sie über sein Gespräch mit Elena zu informieren.
Erleichtert atmete Marlies auf »Hab ich’s mir’ doch gedacht: Elena hat recht!«
Statt ihr beizupflichten, beschränkte sich Henning darauf, ihr ins Gedächtnis zu rufen, wie verschwindend gering die Wahrscheinlichkeit war, Lea könnte noch am Leben sein. »Aber ich hab’s einfach nicht fertiggebracht, ihr das so schonungslos ins Gesicht zu sagen. Bevor du mir jetzt eine Standpauke hältst«, versuchte er seine Worte zu relativieren, »sollst du wissen, dass ich alles dafür tun werde, ihre Hoffnung am Leben zu erhalten. Zumindest vorerst.«
Mit so viel Nachdruck hatte er das eigentlich gar nicht sagen wollen. Dass es sich dennoch so anhörte, lag an seiner Sorge um Elena. Zu wissen, es ging Marlies genauso, machte die Sache nicht leichter. Irgendwann würde die Illusion, der Elena sich hingab, platzen wie eine Seifenblase. Auch wenn keiner von ihnen das so direkt aussprach, wussten sie doch beide darum. Wozu sich etwas vormachen?
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, riss Marlies ihn aus seinen Überlegungen.
Henning versprach, sich gleich morgen die Unglücksstelle anzusehen und Kontakt mit dem Fernsehsender aufzunehmen.
Der Sturm der vergangenen Tage hatte die grauen Wolken vertrieben und einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht. Trotz der eisigen Luft schien dieser Morgen wie geschaffen für sein Vorhaben. Henning war zur Waldhalle gefahren und dann mit Rex entlang der Steilküste bis zur Unglücksstelle gelaufen. Sie war von mehreren Bäumen umgeben, die sie trotz ihrer Kahlheit wie ein schützender Wall umgaben.
Direkt an den Klippen gab eine kuppelförmige Öffnung die Sicht auf die unendliche Weite des Meeres frei. Der gewaltigen
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