Verkehrt!
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Mittwoch
1
Vor einem Schminkspiegel mit einem Rahmen aus vierundzwanzig strahlenden Energiesparlampen fühlt man sich sogar frühmorgens vor der Schule wie ein Superstar.
Mutti hat ihn letzte Woche aufstellen lassen. Bei zwei jungen Damen im Hause wäre das eine sinnvolle Investition, sagte sie. Die eine junge Dame bin ich. Wen sie noch meinte, ist mir bis heute nicht klar.
Wir wohnen quasi alleine im Haus, denn Vati ist die meiste Zeit des Jahres im Ausland. Er ist Bauingenieur. Brücken. Vier Monate Südamerika, zwei Wochen hier, ein halbes Jahr Afrika, einen Monat wieder hier, und seit drei Monaten ist er in Singapur. Einmal wöchentlich skypen wir.
Samstag sehe ich ihn, denn Freitag ist letzter Schultag, und dann sind Sommerferien. Wir fliegen hin, und er nimmt sich eine Woche Urlaub. Mutti und ich hängen noch drei Wochen dran. Sie ist selbständig, Business-Consultant. Das sagt sie zumindest, und das steht auf ihrer Visitenkarte, aber ich habe sie noch nie arbeiten gesehen.
Ich spüre die angenehme Wärme der Energiesparlampen in meinem Gesicht.
Wie grün meine Augen in diesem hellen Licht leuchten! Die Reflexionen des Spiegels als kleine Fenster in meinen Pupillen.
Gleichmäßig verteile ich Rouge auf meinen Wangen, nicht zu viel, nicht zu wenig, dezent unterstreichend.
Wie Mädchen oder Frauen, die auch nur eine Spur Selbstachtung besitzen, auf Make-up verzichten können, ist mir ein Rätsel. Wasser, Seife, Make-up, aufrechter Gang, Stubenreinheit, alles eine Liga.
Schritte auf dem Flur.
Ich drehe mich nicht um, sondern beobachte den Türspalt im Spiegel.
Noch bevor Muttis Gesicht unter den kurzen, schwarz gefärbten und nach vorne gekämmten Haaren erscheint, blitzen die langen Spitzen ihrer froschgrünen Schuhe um die Ecke. Die sind Mode diesen Sommer, das hat sie in einem ihrer Lifestylemagazine gelesen.
Sie kommt herein und setzt dabei etwas zu spät ihr Zweiter-Sieger-Lächeln auf. Dadurch sehe ich für eine Sekunde den schmalen Balken, den ihre dunkelroten Lippen für gewöhnlich bilden, wenn sie sich von mir unbeobachtet fühlt.
Sie saust an mir vorbei zum Fenster, wo die Topfpflanzen stehen, wie in jedem Zimmer neben einem Zerstäuber voll Wasser.
– Bist du fertig?, fragt sie.
Hinter mir zischt es sechs Mal, zwei Nebelschwaden für jede Pflanze. In jedem Zimmer wächst eine andere Pflanzenfamilie. Im Wohnzimmer sind es Yucca-Palmen. Sie hat mir auch den Namen von denen im Bad verraten, aber ich habe ihn vergessen.
– Ja, sage ich und lege meine Sachen wieder zurück in meinen Schminkkoffer.
Bevor ich aufstehen kann, ist sie bei mir. Mit beiden Händen streicht sie über meinen Zopf, und weil sie sich heruntergebeugt hat, erscheinen meine Haare im Kontrast zu ihren gefärbten blonder als sonst. Wir schauen uns durch den Spiegel in die Augen.
– Hast du schöne Haare, sagt sie.
– Ja.
– Du bist so hübsch, Elizabeth.
– Ich weiß.
– Ich bin stolz auf dich.
Ich lächele sie an.
– Ich hab dich lieb.
– Ich dich auch.
Sie drückt mich, und ich stehe auf, damit sie vor dem Spiegel Platz nehmen kann.
– Wir sind schon ein eingespieltes Team, wir zwei, sagt sie.
2
Morgenlatte. Ich überlege kurz: rechte oder linke Hand?
Halb liege ich unter der braunen Wolldecke, halb wellt sie sich von der dünnen Matratze zehn Zentimeter herunter auf den Teppich. Das Zwei-Euro-Stück große Brandloch in der Decke ist direkt unter meinem Kinn.
Soll ich oder nicht? Einerseits bin ich danach den Tag über entspannter, andererseits macht es abends mehr Spaß. Aber vergessen darf ich es dann nicht. Meine Nase läuft, ich ziehe sie hoch.
Aus diesem Blickwinkel kann ich tatsächlich nirgends den dunkelblauen Teppich erkennen. Alte Socken, Papiermüll, Cola-Dosen, verkratzte CD s und CD -Rohlinge, alte Handys, offene Chipstüten und Pommesschalen, Hamburgerpapier, Schulhefte und Bücher, Sporttasche, gebrauchte Handtücher, DVD s, verschiedenfarbige Kabel und meine Schuhe formen ein kunterbuntes Durcheinander, das den Anschein erweckt, es wolle an seinen Rändern die Wände hochkriechen.
Ich entscheide mich für den Spaß, lieber heute Abend.
Mit meiner Linken werfe ich die Decke zurück und sehe den Manga von Ralf durch die Luft segeln. Dumpf trifft er die halbleere Schale Pommes.
Ich hebe das Buch an. Alte, glibberig-glasige Mayonnaise versifft den Seitenrand und tropft vom Cover.
– Rotzekacke.
Wie ein Kühlturm ragt die Rolle Klopapier
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