Treibgut
komplett weggespült wurden. Seine Leiche ist nie gefunden worden, wie so viele andere auch. Er wurde auf die offizielle Vermisstenliste gesetzt und später für tot erklärt.«
Henning stieß hörbar die Luft aus. »Das ist ja ein Ding!« Seine Gedanken überschlugen sich. »Wie hat Elena auf die Todesnachricht reagiert?«
»Schwer zu sagen«, meinte Marlies, die ihre unbefriedigende Antwort damit zu begründen suchte, dass sich das aufgrund Elenas beharrlichen Schweigens nur erahnen ließ.
»Und was ist mit ihren Angehörigen?«, hakte Henning nach, der nicht glauben konnte, dass Elena das alles mit sich allein ausgemacht haben sollte. »Sie wird doch sicher hin und wieder Besuch von Verwandten oder Freunden bekommen?«
»Die ist echt vom Schicksal gebeutelt, die Arme! Die Eltern sind einige Monate vor dem Unglück mit Lea kurz hintereinander gestorben.«
»Und wie sieht es mit Geschwistern aus?«
»Gleichfalls Fehlanzeige.« Er konnte sie seufzen hören. »Sowohl Elena als auch ihr Mann waren Einzelkinder.«
»Und wer regelt dann ihre Belange?«
»Darum kümmert sich ein vom Vormundschaftsgericht eingesetzter Betreuer.«
Nachdem sich Henning den Namen und die Telefonnummer des Mannes notiert hatte, beendete er das Gespräch. Er brauchte jetzt erst einmal etwas Ruhe, um die Fülle an neuen Informationen zu verarbeiten. Danach würde er weitersehen.
In der darauffolgenden Nacht wälzte er sich schlaflos hin und her. Zum einen ließ ihn sein seit der Rückkehr von den Kreidefelsen schmerzendes Knie nicht zur Ruhe kommen, zum anderen spukte ihm Elenas tragisches Schicksal im Kopf herum. Als er gegen Morgen endlich einschlief, träumte er von einer riesigen Flutwelle, die alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte.
Kurz bevor die schmutzig grauen Wassermassen ihn unter sich begraben konnten, schreckte er schweißgebadet hoch. Sein Herzschlag normalisierte sich erst, als ihm klar wurde, dass er in seinem Bett lag – das Ganze nur ein böser Traum gewesen war. Mit weit geöffneten Augen starrte er vor sich hin ins Dunkel und versuchte Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Doch seine Gedanken blieben genauso stumpf und schemenhaft wie die allmählich in graues Dämmerlicht übergehende Schwärze der Nacht. Nach einer Weile dumpfem vor sich hin Brüten schälte er sich schwerfällig unter dem Federbett hervor und tappte verschlafen ins Badezimmer, um sich unter die Dusche zu stellen.
Inzwischen war es kurz vor acht. Nachdem er sich rasiert und angezogen hatte, ging er nach unten, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und den Toaster zu bestücken. Danach holte er wie jeden Morgen die Ostseezeitung herein.
Wie gewöhnlich überflog er zuerst die Schlagzeilen der Titelseite, um wenig später an einem Artikel über das Entführungsopfer Natascha Kampusch hängen zu bleiben, die als Zehnjährige auf dem Weg zur Schule verschleppt worden war. Ihre spektakuläre Flucht aus der Gefangenschaft war eines der Medienereignisse des vergangenen Jahres gewesen. Auch wenn es keinerlei Parallelen zum Fall Dierks zu geben schien, vertiefte sich Henning in den mit ›Acht Jahre im Verlies‹ überschriebenen Beitrag. In einer Spalte waren die spektakulärsten Fälle jahrelanger Entführungen aufgelistet. Sein Blick blieb an der Jahreszahl 1997 hängen: Nach einem Hausbrand in Philadelphia (USA) gehen die Behörden davon aus, dass ein damals zehn Tage altes Mädchen in den Flammen umkam. Sechs Jahre später entdeckt die Mutter ihre tot geglaubte Tochter bei einem Kindergeburtstag. Das Mädchen war von der Brandstifterin entführt worden.
Mit in Falten gelegter Stirn goss sich Henning eine zweite Tasse Kaffee ein. Der Artikel hatte ihn nachdenklich gestimmt. Was, wenn Lea tatsächlich noch am Leben war?
Er griff zum Telefonhörer und wählte Peers Nummer. Sein Freund war skeptisch und verdeutlichte ihm, was er selbst eigentlich schon wusste: Dass es bislang keinerlei verwertbare Spuren für Elenas Behauptung gab. Selbst der Zeitungsartikel über das bei einem Hausbrand in den USA entführte Kind konnte Peer nicht dazu veranlassen, seine Meinung zu ändern.
»Das ist zwar alles schön und gut. Trotzdem bin ich nach wie vor der Ansicht, dass ihr euch da in eine fixe Idee verrennt. Marlies ist wie besessen davon.« Henning konnte ihn seufzen hören. »Dabei nützt euch eure Verschwörungstheorie nicht das Geringste, solange ihr sie nicht beweisen könnt.«
Hennings Schweigen machte Peer klar, dass sein
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