Treibgut
ein einziges Wort, ein einziger Gedanke: Lea, Lea, mein Kind, ich habe mein Kind wiedergefunden.
Zaghaft streckte sie ihrer Tochter die Hand entgegen. Sie hätte sie gern berührt.
Marlies, die das zu spüren schien, fasste sie behutsam am Arm. Elena begriff, dass ihre Freundin sie vor einer Dummheit bewahren wollte. Doch es war bereits zu spät. Von ihren Gefühlen überwältigt, sank sie vor ihrem Kind auf die Knie und riss es in ihre Arme.
Ihr war bewusst, dass sie damit gegen jede Vernunft handelte. Dennoch konnte sie nicht anders.
Als Lea sich leise wimmernd aus ihrer Umklammerung zu befreien versuchte, spürte Elena, wie es in ihren Ohren zu dröhnen und in ihren Fingerspitzen zu kribbeln begann. Gleich würde sie von einer Flutwelle erfasst und mitgerissen werden. Als sich ihre Tochter von ihr losriss, schwoll ihr bis dahin mühsam unterdrücktes Weinen zu einem herzzerreißenden Schluchzen an, das erst beim Anblick von Leas vor ungläubigem Staunen weit aufgerissenen Augen abbrach. Ihre Tochter hatte sich an die Hand ihrer Betreuerin geflüchtet und starrte sie ängstlich an.
Als Elena die Arme nach ihr ausstreckte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Lass mich! Geh weg! Ich will meine Mami«, schluchzte sie.
»Das wirst du auch, ganz bestimmt sogar. Du wirst deine Mami wiederhaben«, wurde ihr von ihrer Betreuerin versichert.
Doch statt sich zu beruhigen, wurde Leas Weinen heftiger.
»Das wird wohl noch eine ganze Weile so gehen«, erklärte sie Elena. »Dagegen kann man nichts machen. Nur warten.«
Eine Welle tiefer, fast schmerzhafter Liebe durchströmte Elenas Brust, als sie sich auszumalen versuchte, wie verlassen sich Lea fühlen musste. Ein zweieinhalbjähriges Kind, das eine allzu schwere Bürde für sein Alter trug. Wie hätte sie anders reagieren sollen? Elena war eine Fremde für sie. Für Lea war Suzette die Mutter, nach der sie sich sehnte. Die Frau, die in den letzten beiden Jahren den Mittelpunkt ihres Lebens gebildet hatte.
»Mami, ich will zu meiner Mami«, hörte Elena sie auf ihrer Bitte beharren.
Mit einer Geste, die unendliche Zärtlichkeit ausdrückte, streckte sie erneut die Hand nach ihrer Tochter aus und strich ihr behutsam über die Wange, um an ihrem Muttermal inne zu halten.
»Schau mich an«, bat sie, ohne weiter darüber nachzudenken.
»Siehst du das hier?« Elena deutete auf den kaffeebraunen Leberfleck, der auf ihrem rechten Wangenknochen saß und der dem vom Daumen einer Mutter halbweggewischten Schmutzfleck ähnelte.
»Ich habe auch so ein Muttermal wie du«, sagte sie in der Hoffnung, damit das Eis zwischen ihnen zu brechen. Ihr Plan schien tatsächlich aufzugehen. Für einen Moment vergaß Lea ihre Befangenheit. Scheu streckte sie Elena ihre Hand entgegen und berührte sie kurz an der Wange. Zu sehen, dass außer ihr noch jemand ein solches Muttermal besaß, schien eine faszinierende Wirkung auf sie auszuüben.
Als Elena sie erneut in den Arm zu nehmen versuchte, ließ Lea es geschehen und leistete keinen Widerstand mehr. Ihr Kind fühlte sich zart und zerbrechlich an. Gerührt schloss sie die Augen und vergrub ihr Gesicht in dem ganz schwach nach Wiesenblumen duftenden Haar ihrer Tochter.
»Warum hast du vorhin so dolle geweint?«, wollte Lea mit dünnem Stimmchen wissen.
»Weil ich so glücklich darüber bin, dass ich dich endlich wiedergefunden habe«, erwiderte sie schlicht. Bevor Elena weitersprach, zog sie ihre Tochter behutsam auf ihren Schoß und begann, sie sanft hin und her zu wiegen. »Ich war bei dir, als du deinen ersten Atemzug getan hast«, flüsterte sie ihr zärtlich ins Ohr. »Du hattest die schönsten blauen Augen, die ich je gesehen habe.«
»Aber meine Augen sind doch braun«, widersprach Lea.
»Jetzt schon. Aber damals waren sie noch blau. Die meisten Kinder kommen mit blauen Augen auf die Welt.«
»Du auch?«
»Ich auch.«
»Bist du etwa eine Fee?«, erkundigte sich Lea nun schon mutiger.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil du so viel über mich weißt.«
»Ich weiß gar nicht so viel über dich.« Viel zu wenig, korrigierte sie in Gedanken. »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Dort hinten hab ich vorhin einen kleinen See mit Enten und Schwänen entdeckt.« Sie wies in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Wollen wir uns die alle zusammen mal anschauen? Ich würde mich freuen, wenn du mir dabei noch ein bisschen mehr von dir erzählst.«
E N D E
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