Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
zeichneten sich unter weißem Leinen die Konturen eines kleinen Körpers ab. Dr. Wittpfuhl schlug das Tuch vom blassen Gesicht des Jungen zurück.
Alan Benson nickte. »Wie normal er aussieht. Als würde er nach einem anstrengenden Schultag Mittagsschlaf machen.«
Der Gerichtsmediziner hatte in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet. Manuel schien zu lächeln. Aber Kalkbrenner wusste, dass der Gesichtsausdruck nur eine freundliche Illusion war. Dahinter lauerten schwarze Abgründe.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Alan Benson.
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, bedauerte Dr. Wittpfuhl.
»Hat man ihn …?«
»Auch darauf kann ich Ihnen erst später eine Antwort geben.«
»Warum?«
»Ich muss Ihren Sohn erst noch … untersuchen.«
Kalkbrenner hatte schon mehrere Hinterbliebene erlebt, die in diesem Moment die Nerven verloren hatten. Wenn sie begriffen, was mit dem Verstorbenen während der Sektion geschehen würde, schimpften und weinten sie.
»Selbstverständlich.« Alan Benson hingegen nahm die Nachricht auf, als wäre sie das Natürlichste von der Welt. »Anna wird wissen wollen, wann …« Seine Hand näherte sich vorsichtig Manuels Stirn, aber Dr. Wittpfuhl hielt ihn von der Berührung ab. »Wann können wir ihn beerdigen?«
»Das wird wohl noch einige Tage dauern«, beantwortete Kalkbrenner die Frage. »Ich hoffe, Sie verstehen das. Soll meine Kollegin Sie nach Hause bringen?«
»Nein danke. Ich nehme die Bahn.«
»Sie müssen aber nicht alleine …«
»Nein, das ist schon gut. Ich möchte
gerne alleine sein.«
Muth brachte ihn zum Ausgang, während Dr. Wittpfuhl unterdessen die Bahre in einen Nebenraum schob, wo sich auf einem kleinen Tisch allerlei Instrumente und Geräte stapelten. Ihre verschiedenen Funktionen hatten sich Kalkbrenner bis heute nicht gänzlich erschlossen, allerdings musste er zugeben, dass er bisher auch nie besonders darauf erpicht gewesen war, mehr über Obduktionen herauszufinden als unbedingt nötig.
Für einen Moment erfüllte Stille den Saal. Nur das Surren der Klimaanlage, das selbst im Winter den Raum erfüllte, war zu hören. Es ähnelte dem leisen Wispern vieler Stimmen, die daran erinnern wollten:
Wir sind tot. Vergesst uns nicht!
Wirsindtotvergesstunsnicht!
Der Arzt glättete das Laken wieder über Manuels Gesicht. »Keine schöne Sache.«
Kalkbrenner vermied es, den toten Körper noch länger anzuschauen. »Das ist es nie.«
»Aber der Vater hat es sehr gefasst aufgenommen, findest du nicht?«, meinte Muth, die zurückgekommen war.
»Für mich macht er sogar einen regelrecht gelassenen Eindruck«, stimmte Kalkbrenner ihr zu.
»Jeder Mensch hat eine andere Art, mit dem Tod umzugehen«, meinte Dr. Wittpfuhl.
Kalkbrenner wusste, was der Pathologe meinte. In den vergangenen fünfzehn Jahren war er unzählige Male mit dem Tod konfrontiert worden. Jeder Fall war auf seine eigene Weise erschütternd gewesen, egal ob das Opfer erstochen, erschossen, erdrosselt, verstümmelt oder vergewaltigt worden war. Der Kommissar hatte gelernt, damit zu leben.
Es ist das
,
was ich am besten kann.
Aber an ein Kind auf der Bahre, daran würde er sich nie gewöhnen können, egal wie er sich auch anstrengte. Wahrscheinlich kam ihm deshalb der Obduktionssaal heute auch finsterer vor als sonst. Er wollte so schnell wie möglich raus hier, aber vorher gab es noch einige Fragen zu klären. »Was ist mit Manuel passiert?«
Ohne Vorwarnung entblößte der Arzt den bleichen, von unzähligen tiefen, blutigen Wunden übersäten Körper des Jungen. Er spreizte ihm die Beine. Kalkbrenner hielt die Luft an, Muth gab ein Würgen von sich, dann wandten sie sich ab.
»Reicht Ihnen das als erster Eindruck?« Dr. Wittpfuhls Blick ruhte nachdenklich auf den Verstümmelungen, als würde er sie selbst zum ersten Mal sehen.
»Ist Ihnen schon etwas aufgefallen?«
»Was wollen Sie von mir hören, Herr Kalkbrenner?«
»Na das, was Ihnen aufgefallen ist.«
»Ob der Junge missbraucht wurde? Ob der Mörder ein Triebtäter ist?« Der Mediziner beugte sich zur Leiche hinab und betrachtete einige der Wunden aus direkter Nähe.
Kalkbrenner vermied es, noch einmal hinzuschauen. Die Verstümmelungen hatten sich sowieso bereits in sein Gehirn gebrannt, und er würde Mühe haben, sie wieder zu vergessen. »Ich dachte, Sie hätten bereits eine erste Leichenschau …?«
»Nein, der Junge ist erst vor einer Stunde eingetroffen. Und kurz darauf haben Sie auch schon den Vater zur Identifizierung
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