Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Stadtkarten aufgeschlagen. Die Kriminaltechniker arbeiteten bereits konzentriert und routiniert. Für sie schien es ein Verbrechensschauplatz wie die vielen anderen zu sein, an die man sie zuvor bestellt hatte. Aber das stimmte natürlich nicht. Ein Blick auf die Straße genügte. Oder auf die Pinnwand am Kopfende des Raumes, wo – einem Mahnmal gleich – ein DIN-A4-großes Porträt von Manuel prangte. Auf dem Foto lachte er und wirkte überraschend lebendig. Dieser Junge hatte nichts mit dem gemein, dessen bleicher, misshandelter und toter Körper zur Stunde von Dr. Wittpfuhl untersucht
wurde.
»Sie waren schon in der Gerichtsmedizin?«, fragte eine Stimme.
Kalkbrenner drehte sich um und fand sich Dr. Robert Babicz gegenüber. »Sieht man mir das an?«
»Nein, man hat es mir gerade gesagt.« Babicz war das, was die Leute dank moderner TV-Serien unter der Bezeichnung »Profiler« kannten. Tatsächlich war er ein Psychologe. Einer, mit dem Kalkbrenner schon einmal vor Jahren zusammengearbeitet hatte. Damals war es um die Aufklärung eines heimtückischen Pfarrermordes gegangen, der die Öffentlichkeit erschüttert hatte. Gerade in solchen Ausnahmefällen wurde der Psychologe gerne zurate gezogen. »Hat Dr. Wittpfuhl Ihnen bereits etwas zu den näheren Todesumständen des Jungen mitteilen können?«
»Manuel wurde missbraucht und misshandelt. Sein Tod ist vor etwa zwölf bis dreizehn Stunden eingetreten.«
»Mehr hat er nicht gesagt?« Die dürftige Auskunft des Gerichtsmediziners würde Babicz bei der Erstellung eines ersten Täterprofils nicht weiterhelfen.
»Vielleicht kann ich Ihnen ja nützlich sein«, meinte Veckenstedt und legte den Zeigefinger auf eine stark vergrößerte Stadtteilkarte vom Prenzlauer Berg. Mit seiner Fingerspitze zeichnete er die Kopenhagener Straße nach. »Hier wohnte Manuel mit seiner Mutter. Nachdem sie den Jungen in der Nacht von Donnerstag auf Freitag als vermisst gemeldet hatte, haben wir am Freitagmorgen die Fahndung eingeleitet.«
Er berichtete von der Suche der Bereitschaftspolizisten im Viertel, von der Überprüfung der vorbestraften Triebtäter, der Aktion der Nachbarn und dem Videomaterial, anhand dessen die Spur des Jungen bis zum Alexanderplatz nachverfolgt worden war. Abschließend erzählte er von der Pressekampagne der Mutter. »Anna Benson ist Chefin einer Werbeagentur und weiß, wie sie die Medien für sich nutzen kann. Das ist natürlich ihr gutes Recht, und manchmal hilft es sogar. Aber es erhöht auch unseren Druck: Warum findet die Polizei den Jungen nicht? Sucht sie überhaupt? Et cetera, Sie kennen die Kommentare.«
»Schon am frühen Abend, kurz nachdem die ersten Radio- und Fernsehmeldungen über die Sender gegangen waren, wurde die Soko auf Anweisung des Polizeipräsidenten um zusätzliche achtzig Beamte der Bereitschaft erweitert«, führte Hansen weiter aus. »Seitdem gehen sie den Hinweisen aus der Bevölkerung nach – aus ganz Berlin.«
»Es kostet uns enorm viel Zeit, die Trittbrettfahrer, Scherzkekse, Hellseher und Scharlatane auszusieben«, bedauerte Veckenstedt.
»Natürlich befinden sich auch immer ernst gemeinte Hinweise darunter, aber das Wetter der letzten Tage, das wiederholte Schneetreiben, alles zusammen bot keine gute Ausgangsbedingung für zuverlässige Beobachtungen«, sagte Hansen. »Mal soll das Opfer in Charlottenburg gesehen worden sein, mal in Friedrichshain. Ein Zeuge hat das Opfer in Treptow beobachtet, ein anderer in Schönefeld. Und alles zur selben Zeit.«
Kalkbrenner entging die besondere Wortwahl Hansens nicht.
Das Opfer.
Nicht:
der Junge.
Oder:
Manuel.
»
Es gab sogar Anrufer aus Potsdam und Frankfurt an der Oder«, ergänzte Veckenstedt. »Den Entfernungsrekord in diesem Fall hat ein Anrufer aus Hamburg aufgestellt.« Er drehte sich zum Fenster. Draußen beleuchteten die Halogenscheinwerfer der Spurensicherung in der Abenddämmerung die knochigen Bäume und Büsche sowie das fahle Schilfgras entlang einer Uferböschung, wo das Wasser im Teich zu Eis gefror. »Aus Schmargendorf hat sich dagegen niemand gemeldet. Bis heute Morgen.«
Aus Veckenstedts Worten sprachen Erschöpfung und Enttäuschung. Nachdem er und seine Kollegen in den vergangenen zwei Tagen kaum Schlaf gefunden hatten, waren sie nun verständlicherweise frustriert, weil sich die Plackerei als vergeblich herausgestellt hatte. Der Fahndung nach Manuel war kein glückliches Ende vergönnt gewesen.
Kalkbrenner hatte schon Beamte erlebt, gestandene
Weitere Kostenlose Bücher