... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
improvisierten Ambulanzen mit Papierabfällen Verbände zu machen, habe ich beispielsweise einmal ganz allein unter einer Straße einen Tunnel (für Wasserleitungsrohre) gestochen. Auch das war für mich nicht unwichtig – in Anerkennung dieser meiner »Leistung« habe ich nämlich kurz vor Weihnachten 1944 zwei sogenannte Prämienscheine bekommen. Das sind Scheine, die von der Baufirma ausgegeben wurden, an die wir als Arbeitssklaven vom Lager aus buchstäblich verkauft wurden (die Firma mußte pro Tag und Häftling der Lagerverwaltung eine bestimmte Summe zahlen); ein Prämienschein kostete die Firma fünfzig Pfennige und wurde, freilich zumeist erst nach Wochen, im Lager gegen sechs Zigaretten eingelöst. Und nun war ich im Besitz des Gegenwertes von zwölf Zigaretten! Zwölf Zigaretten bedeuteten aber zwölf Suppen und zwölf Suppen nur allzu häufig eine wirkliche Lebensrettung vor dem Hungertode, für beiläufig zwei Wochen. Die Zigaretten aufzurauchen, konnte sich nur ein Capo, der seine garantierten paar Prämienscheine pro Woche hatte, oder ein Häftling leisten, der einer Werkstatt oder einem Magazin im Lager vorstand und für gewisse Gegenleistungen mit Zigaretten belohnt wurde. Alle übrigen, die gewöhnlichen Häftlinge, pflegten Zigaretten, in deren Besitz sie auf dem Wege über Prämienscheine und somit über lebensgefährliche zusätzliche Arbeitsleistungen kamen, in Nahrungsmittel umzusetzen, außer sie hatten es aufgegeben, weiterzuleben, hatten ihre Situation für aussichtslos angesehen und beschlossen, die letzten Lebenstage, die ihnen noch zur Verfügung standen, zu »genießen«: wenn ein Kamerad einmal begann, seine paar Zigaretten selber zu rauchen, dann wußten wir, daß er nicht mehr daran glaubte, weitermachen zu können – und es dann auch tatsächlich nicht konnte.
Soviel zur Rechtfertigung und Erklärung dessen, was der Buchtitel besagt. Fragen wir uns aber nunmehr nach dem eigentlichen Sinn eines solchen Unternehmens, wie dieser Bericht es darstellt. Tatsachenberichte über die Konzentrationslager sind ja schon in genügender Anzahl erschienen. Hier sollen jedoch Tatsachen nur insofern vorgebracht werden, als das Erlebnis eines Menschen jeweils das Erlebnis tatsächlichen Geschehens ist; dem Erlebnis als solchem jedoch gelten die folgenden psychologischen Bemühungen. Ihr Sinn ist ein doppelter, je nachdem, ob der Leser das Konzentrationslager und das Leben daselbst aus eigenem Erleben kennt oder nicht. Für die erstere Gruppe von Lesern soll hier das, was sie selber tatsächlich erlebt haben, mit den zur Zeit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden zu erklären versucht werden; für die zweite Gruppe aber soll das, was der ersteren erklärbar ist, verstehbar werden. Es wird also darum gehen, auch dem Außenstehenden das Erlebnis der andern verständlich zu machen, die Erlebnisweise des Häftlings verstehen zu lassen und so schließlich um Verständnis zu werben für den nur allzu geringen Prozentsatz der überlebenden ehemaligen Häftlinge, für deren eigenartige und, psychologisch gesehen, etwas durchaus Neuartiges darstellende Einstellung zum Leben. Denn diese ist nicht so ohne weiteres verständlich; hören wir doch die betreffenden Menschen immer wieder sagen: »Wir sprechen nicht gerne über unser Erlebnis: wer selber in einem Lager war, dem brauchen wir nichts zu erklären; und wer es nicht war, dem werden wir nie begreiflich machen, wie es in uns ausgesehen hat – und wie es auch jetzt noch in uns aussieht.«
In methodischer Beziehung stellen sich einem derartigen psychologischen Versuch allerdings gewisse Schwierigkeiten. Psychologie erfordert wissenschaftliche Distanz. Hat aber nun derjenige, der das Lagerleben selber erlebt hat, überhaupt oder gar während des Erlebens, zur Zeit also, da er seine einschlägigen Beobachtungen machen mußte, die nötige Distanz? Der Außenstehende hatte die Distanz, aber er hat auch schon zu viel Distanz, steht zu sehr außerhalb des Erlebnisstromes, um irgendwelche gültigen Aussagen machen zu können. Wer aber »mittendrin« stand, hat zwar vielleicht zu wenig Distanz, um ein ganz objektives Urteil abgeben zu können -, er allein aber weiß um das in Frage stehende Erlebnis. Natürlich ist es nicht nur möglich, sondern nachgerade wahrscheinlich, daß der Maßstab, den er an die Dinge anlegt, gleichsam selber verzerrt ist. Dies läßt sich nicht ausschalten. Nur wird es darauf ankommen, zu versuchen, das sozusagen Private
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