Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
I
Mein seliger Mann war ein ruheloser Mensch. Am liebsten war er auf Reisen.
Doch selbst wenn er nicht unterwegs war, wenn er sich bei uns in Ithaka aufhielt, wenn er in meinem Bett lag und mich in den Armen hielt: Immer hatte ich das Gefühl, an Deck eines Schiffes zu sein oder auf einem langsam schwimmenden Floß. Das lässt sich schwer erklären. Wer mit ihm lebte, begab sich ebenfalls auf eine Reise, langsam und ausdauernd. Es war schwer, sich ihm zu nähern, weil er ständig dabei war, sich zu entfernen. An seiner Haut haftete der Geruch des Meeres.
Über das, was uns widerfahren ist, über die Geschichte unserer Familie, sind in der Welt leider schon zu viele Worte verloren worden. In letzter Zeit wurde ich mehrfach gebeten, die Wahrheit zu sagen und meine Erinnerungen niederzuschreiben. All diese Bitten habe ich abgeschlagen. Nicht nur, weil ich derartige Eröffnungen für unter meiner Würde halte. Ich habe die Neugierigen eher deswegen abgewiesen, weil zu unserer Zeit – ich denke hier an die Zeit, als ich in der Gesellschaft meines Mannes lebte – das Schreiben noch eine außerordentlich gewöhnliche, niedere Beschäftigung war. Damals, als mein Mann und ich noch Menschen waren – genauer gesagt, als wir für kurze Zeit wieder einmal Menschen waren –, schrieben die vornehmeren Leute nicht. Wenn sie der Welt etwas zu sagen hatten, griffen sie zur Leier und sangen. Die Dichter und alle, die sich mit Worten ausdrücken konnten, verachteten das Schreiben, diese Sklavenarbeit, zutiefst. Sie schritten vielmehr im Wind dahin, die Leier in der Hand, und sangen dazu. Mein Mann mochte dieses fünfsaitige Instrument, und wir hielten in unserem Haus immer einen Sänger, der die Erlebnisse der Achäer in metrischen Versen vortrug. Dieser Mann wurde gesondert gespeist, und sogar Wein mischte man ihm in den silbernen Becher, dass er Lust zum Singen bekomme. Mein Mann förderte die Literatur.
Ich erinnere mich noch an einen dieser Sänger, der längere Zeit in unserem Haus verweilte und sich dann später, als sich alles so schmerzlich und aufregend veränderte, auf den Weg machte und überall auf den Inseln seine Verse vortrug. Dieser Mann war blind. Noch heute sehe ich manchmal undeutlich sein Gesicht vor mir. Dünn war er und alt, und seine blinden Augen vermochten bisweilen den Eindruck zu erwecken, als sähe er tatsächlich etwas. Später habe ich mich viel über ihn geärgert. Die Geschichte, die er vortrug, war ungenau. Er sang alles Mögliche, so gut es ein Blinder eben kann, der die Wahrheit nur ahnt und sie nicht weiß. Die Wahrheit weiß nur ich, die ich im Bett meines Mannes gelegen und dann zwanzig Jahre lang auf ihn gewartet habe.
Aber das Schreiben will ich nicht mehr lernen. Dafür bin ich zu alt, selbst wenn ich unsterblich, also ewig jung bin. Lieber erzähle ich, was ich weiß. Ich erzähle es langsam, so wie er manchmal sprach, wenn er sich – im Winter – mit uns an den dreibeinigen eisernen Glutkorb setzte und zu erzählen begann. Manchmal höre ich noch seine Stimme. Sie klang wie das Rauschen des Meeres.
II
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Jetzt, da die Erinnerungen auf mich einstürmen, spüre ich ein Herzklopfen, als wäre all das, was ich zu sagen habe, zu viel, unfassbar, unendlich wie die See. Denn immer, wenn ich an meinen seligen Mann denke, erinnert mich alles an das Meer. An Land war er immer nur zu Gast. Aber auf dem Meer fühlte er sich zu Hause, und wenn er auf ein Schiff stieg, glänzten seine Augen. In Ithaka habe ich ihn nie mit so leuchtenden Augen gesehen, wie wenn er vom Schiff aus uns, den Daheimbleibenden, zum Abschied winkte.
Vielleicht hasste ihn Poseidon auch deswegen. Er war eifersüchtig auf ihn. Darüber weiß nur ich Bescheid. Alles, was später geredet wurde, was der Schwätzer Teiresias am Tor zum Hades den Wanderern erzählt, ist erfunden und erlogen. Poseidon hasste meinen Mann nicht deswegen, weil der Polyphem seinen verkrüppelten, einäugigen Sohn getötet hat, dieses stotternde Rindvieh. In unseren Kreisen ist ein Mord ohnehin keine große Sache. In unserer Welt werden Leben und Tod anders gemessen als in der Menschenwelt: Wir, die wir Menschen und Götter zugleich sind, wissen, dass der Tod nur ein Missverständnis ist. Nein, Poseidon hasste meinen Mann, weil er auf ihn eifersüchtig war: Beide waren Götter, denn bevor die Griechen, die ich nicht leiden kann, in Arkadien und Böotien, der eigentlichen Heimat meines Mannes, einwanderten,
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