Trügerisches Spiel (German Edition)
deutlich wärmeres Wetter gewöhnt. Im Geiste zuckte Jocelyn mit den Schultern. Es ging sie nichts an, und sie sollte stattdessen lieber über ganz andere Dinge nachdenken.
Ihr Blick glitt zu der Anwältin, die ihrerseits mit einem seltsamen Gesichtsausdruck den Mantelmann beobachtete. Auch ihr Begleiter schien sich nicht wohl zu fühlen, er zupfte an seiner Krawatte. Fantastisch, jetzt hatten sie es geschafft, sie nervös zu machen. Dabei stand der Mann einfach nur da, den Blick auf die Tür gerichtet. Seine schwarzen Haare lockten sich leicht über den Kragen des Trenchcoats, die Hände hatte er in den Taschen vergraben. Es gab keinen Grund, warum sie sich seinetwegen unwohl fühlen sollte. Doch sie tat es. Unruhig strich sie über die Gänsehaut auf ihren Armen. Wussten ihre beiden Mitfahrer etwas über den Mann? Vielleicht war er ihnen in irgendeinem Prozess begegnet und … Jocelyn erstarrte, als er sich ruckartig zu ihr umdrehte.
»Schönes Wetter heute, oder?« Er grinste sie an und entblößte dabei nikotingelbe Zahnreihen.
Sie nickte und sah nach oben, wo unendlich langsam die Stockwerke aufleuchteten, an denen sie vorbeifuhren. Das war sicher die längste Fahrstuhlfahrt ihres Lebens. Ihr Kopf ruckte herum, als sie ein leises Ploppen und einen entsetzten Aufschrei hörte. Die Anwältin starrte auf ihren Begleiter, der für einen Moment bewegungslos dastand, bevor er in Richtung der Fahrstuhlwand taumelte und daran nach unten rutschte. Seine Augen waren geweitet, sein Gesicht verzerrt. Ein roter Fleck breitete sich auf dem Hemd des Mannes aus.
Was war geschehen? Die Stille im Fahrstuhl wurde vom Aufschluchzen der Frau unterbrochen, die sich neben ihn kniete und mit einer zitternden Hand über sein Gesicht strich. Verspätet breitete sich Furcht in Jocelyn aus. Die ganze Situation war so jenseits ihrer bisherigen Erfahrungen, dass sie Mühe hatte, zu verstehen, was passiert war. Und sie hatte auch keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Sie erinnerte sich an das Handy in ihrer Tasche und begann, danach zu suchen, damit sie Hilfe rufen konnte.
»Hände da raus!« Die unangenehm raue Stimme des Trenchcoat-Typen durchdrang die angespannte Stille.
Es dauerte einen Moment, bis Jocelyn verstand, dass er sie meinte. Zögernd ließ sie ihre Tasche sinken, als sie die Pistole in seiner Hand bemerkte. Oh Gott, er hatte auf den Mann geschossen! Erst jetzt ergab der Blutfleck auf dem Hemd einen Sinn. Ein länglicher Zylinder war vor dem Pistolenlauf angebracht. Bisher hatte sie Schalldämpfer nur in Filmen gesehen, sie hätte nie geglaubt, dass jemals so etwas in der Realität auf sie gerichtet sein könnte. Die Angst wurde stärker, ihre Beine begannen zu zittern, ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Fast wünschte sie, sie hätte genauer aufgepasst, wie die Polizisten in den Filmen ihre Gegner zum Aufgeben brachten, doch ihr Gehirn war völlig leer, wie erstarrt. Ihr Blick ging automatisch zur Stockwerkanzeige, vielleicht wenn sie einfach nur bis zum Erdgeschoss …
»Sie haben ihn umgebracht!« Die Stimme der Anwältin überschlug sich, sie klang schrill in der Enge des Fahrstuhls.
»Danke für die Auskunft, dann brauche ich nicht selber nachzusehen.«
Die ruhige, fast gelassene Antwort des Mörders rieb über Jocelyns angespannte Nerven.
»Sie …«
Am liebsten hätte Jocelyn der Anwältin gesagt, sie solle den Mann nicht provozieren, solange sie noch im Fahrstuhl waren, doch es war bereits zu spät. Im einen Moment stand sie da, Tränen im verzerrten Gesicht, im nächsten fiel die Frau nach hinten, während Jocelyn etwas Feuchtes entgegensprühte. Sie wollte schreien, doch ihre Stimmbänder waren wie gelähmt, sie brachte keinen Ton heraus. Mit einem deutlich hörbaren Knacken schlug der Kopf der Anwältin gegen die Fahrstuhlwand, bevor sie zu Boden sank. Entsetzt sah Jocelyn auf das Blut, das Gesicht und Kleidung der Anwältin bedeckte und langsam unter ihrem Kopf in den Teppich sickerte. Oh Gott, oh Gott! Sie wollte hier weg, nur weg. Ihren Rücken gegen die Wand gepresst, hob Jocelyn abwehrend die Hände. Erst jetzt entdeckte sie, dass auch ihre Arme und ihre Kleidung voller Blut waren. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie würgte trocken.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das so viel Dreck macht.« Der Mörder sah leidenschaftslos auf die beiden verrenkten Körper herunter. »Aber ich muss ja hinterher nicht sauber machen.«
In diesem Moment erkannte sie, dass sie allein war. Mit zwei Leichen und
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