Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
in den Vordergrund gerückt. Erst mit dem vorläufigen Ende des Bürgerkrieges 1999 und der gleichzeitigen Annäherung der Türkei an die EU im selben Jahr wurde der Einfluss des Militärs Schritt für Schritt zurückgedrängt.
Das geschah auch deshalb, weil sich in der Türkei trotz der oft ungünstigen Umstände durchaus eine lebhafte demokratische, zivilgesellschaftliche Kultur entwickelt hat, die sich immer wieder zu Wort meldet. Trotz mächtiger Militärs, trotz einer unberechenbaren, oft brutalen Polizei, die in weiten Kreisen Folter immer noch für eine probate Ermittlungsmethode hält, ist das Land alles andere als ein bedrückender Polizeistaat. Die meisten Menschen halten mit ihrer Meinung durchaus nicht hinterm Berg und äußern sich völlig unverblümt, auch Fremden gegenüber. Das gilt nicht nur für den Mann auf der Straße. Es gibt seit Jahren zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen ( NGO s), die Menschenrechtsverletzungen anprangern und damit in der Öffentlichkeit auch Wirkung erzielen. In zahlreichen Fernsehdebatten und in etlichen Zeitungskommentaren wird ordentlich gegen die Regierung ausgeteilt – das führt zwar oft zu Beleidigungsklagen, aber in der Regel muss niemand mehr als eine Geldstrafe fürchten.
Mit zwei großen Ausnahmen. Wer in der Türkei die Massaker an den Armeniern offen als Völkermord bezeichnet, bekommtunweigerlich Schwierigkeiten. Auch wenn der jetzt immer wieder kritisierte Strafrechtsparagraph, auf dessen Grundlage beispielsweise Orhan Pamuk für seine Stellungnahme zur Armenierfrage angeklagt wurde, auf Drängen der EU modifiziert wurde, wird sich daran zunächst kaum etwas ändern. Der Widerstand gegen womöglich sehr schmerzhafte Einsichten ist massiv, und jeder Türke, der in den Verdacht kommt, womöglich die armenische Position zu unterstützen, gilt fast automatisch als Verräter. Das andere Tabuthema ist ein möglicher kurdischer Staat. Bereits die Forderung nach Autonomie wird als Separatismuspropaganda geahndet und führt meist ohne weiteres zu einem Strafverfahren. Trotzdem ist hier die Tendenz eindeutig. Wurde vor 15 Jahren offiziell noch die Existenz einer eigenständigen kurdischen Identität bestritten und die kurdische Sprache als Dialekt abgetan, geht es heute darum, welche politischen Konsequenzen man aus der Tatsache, dass ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei Kurden sind, ziehen muss.
Ein Teil der Faszination, die die Türkei auf Beobachter von außen ausübt, besteht ja gerade auch darin, dass hier tagtäglich weit existenziellere Konflikte verhandelt werden als im alten Europa. So ist die Armenienfrage ja nicht nur ein Problem der Vergangenheitsbewältigung, sondern gleichzeitig die Frage nach dem Umgang mit dem real existierenden Nachbarland Armenien. Der Kurdenkonflikt ist nicht nur ein Kampf um die Unteilbarkeit des Landes im, von Istanbul aus gesehen, fernen Südosten des Landes, sondern gleichzeitig eine gesellschaftliche Herausforderung für den zwischenmenschlichen Umgang von Türken und Kurden im Westen des Landes. Schließlich leben längst mehr Kurden über das ganze Land verstreut als in den angestammten kurdischen Siedlungsgebieten. Als wäre das nicht schon genug Konfliktstoff, befindet sich das Land in einer ganz grundsätzlichen Auseinandersetzung um das Erbe des Kemalismus: säkulare Republik kontra religiösen Aufbruch in Bildung und Lebensstil. Das alles schafft vor dem Hintergrund extremer materieller Ungleichheit natürlich Spannungen, die deutlich größer sind als in einer westeuropäischen Wohlstandsgesellschaft.
Gleichzeitig ist die Türkei aber ein europäisches Schwellenland, das versucht, seine großen Konflikte mit den klassischen Mitteln westeuropäischer Demokratien zu lösen. Seit das Land 1999 offiziell zu einem EU -Beitrittskandidaten erklärt wurde und seit 2005 die Beitrittsverhandlungen begonnen haben, ist die Türkei im Prinzip bereit, sich an den EU -Kriterien messen zu lassen. Hier müssen sich die Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie – Gewaltenteilung, krisenfeste Institutionen, Achtung der Verfassung und des Rechtsstaates, Vorrang der Menschenrechte, Achtung von Minderheiten und religiöse Toleranz bei gleichzeitiger Trennung von Religion und Staat – unter weit härteren Bedingungen bewähren als in den alten EU -Staaten.
Zu beobachten, wie weit dies gelingt, ist einfach spannender, als in Deutschland die x-te Debatte um eine Gesundheits- oder Rentenreform zu verfolgen, obwohl dies
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