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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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saß mit dem Rücken zu ihr ein Mann, melancholisch über den Weinkrug gebeugt. Sie sah nur sein kurzes schwarzes Haar und die angegrauten Schläfen.
    Warja hatte nun große Angst. Mach dich nicht verrückt, redete sie sich zu. Du bist eine erwachsene starke Frau und keine spießige Zierpuppe. Du mußt ihnen sagen, daß du eine Russin bist und zur Armee reist, zu deinem Bräutigam. Wir Russen kommen als Befreier Bulgariens und sind hier willkommen. Außerdem ist das Bulgarische mit dem Russischen verwandt, und wir werden uns schon verstehen.
    Sie drehte sich nach dem Fenster um – vielleicht kam Mitko zurück? Doch auf der staubigen Straße waren weder Mitko noch die Karuza zu sehen, dafür erblickte Warja etwas, was sie zuvor nicht beachtet hatte. Über den Häusern erhob sich ein Minarett mit abbröckelndem Putz. Oje! War sie etwa in einem muselmanischen Dorf? Aber die Bulgaren waren doch orthodoxe Christen, das war bekannt. Außerdem tranken sie hier Wein, was der Koran den Muselmanen verbot. Wiederum – wenn dies ein christliches Dorf war, wozu dann das Minarett? Und wenn ein muselmanisches, für wen waren dann die Leute hier, für uns Russen oder für die Türken? Für uns wohl kaum.
    O Gott, was sollte sie tun?
     
    Mit vierzehn war Warja im Religionsunterricht ein unwiderlegbarer Gedanke gekommen – wieso war bisher niemand darauf verfallen? Wenn Gott als erstes Adam geschaffen hat und erst danach Eva, so bedeutet das keineswegs, daß die Männer wichtiger, sondern daß die Frauen wertvoller sind. Der Mann ist ein Probemuster des Menschen, ein Entwurf, die Frau hingegen die endgültig bestätigte Variante, ergänzt und korrigiert. Aber das interessante, wirkliche Leben gehört sonderbarerweise den Männern, und die Frauen dürfen nur gebären und sticken, gebären und sticken. Woher diese Ungerechtigkeit? Weil die Männer stärker sind. Also muß man stark sein.
    Und Warja beschloß, anders zu leben. In den Amerikanischen Staaten gab es schon die erste Ärztin, Mary Jacobi, und die erste Priesterin, Antoinette Blackwell, doch in Rußland herrschte geistige Trägheit. Aber gebt uns nur Zeit.
    Nach dem Abschluß des Gymnasiums führte Warja, ähnlich den Amerikanischen Staaten, einen siegreichen Unabhängigkeitskrieg (ihr Herr Vater, der Advokat Suworow, konnte dem nichts entgegensetzen) und belegte Geburtshilfekurse, womit sie den Wandel von der »Strafe Gottes« zur »verrückten Nihilistin« vollzog.
    Mit den Kursen ging es nicht gut. Den theoretischen Teil bewältigte Warja mühelos, obwohl vieles an dem Prozeß der Schaffung eines menschlichen Wesens sie erstaunlich und unglaublich dünkte, doch als es galt, einer wirklichen Geburt beizuwohnen, versagte sie schmählich. Sie konnte das gellende Geschrei der Kreißenden und den grauenhaften Anblick des plattgedrückten Säuglingsköpfchens, das aus blutigem Fleisch hervorkam, nicht aushalten und plumpste in Ohnmacht. Danach blieb ihr nur übrig, auf Telegraphiekurse umzusteigen. Eine der ersten russischen Telegraphistinnenzu werden, das schmeichelte ihr zunächst durchaus, zumal die »Petersburger Nachrichten« über sie schrieben (am 28. November 1875 unter dem Titel »Das war längst fällig«), doch die Arbeit erwies sich als unerträglich langweilig und bot keinerlei Aussichten für die Zukunft.
    Warja, zur Erleichterung der Eltern, fuhr auf das Gut im Tambowschen, doch nicht zum Müßiggang, sondern um Bauernkinder zu unterrichten und zu erziehen. Dort, in der nagelneuen, nach Kiefernspänen duftenden Schule, lernte sie den Petersburger Studenten Petja Jablokow kennen. Er unterrichtete Arithmetik, Geographie und die Grundlagen der Naturwissenschaften, sie alle übrigen Fächer. Recht bald aber ging den Bauern auf, daß der Schulbesuch weder Geld noch sonstige Vergnügungen zeitigen würde, und sie behielten die Kinder zu Hause (die sollten nicht faulenzen, sondern arbeiten). Warja und Petja hatten derweil schon einen Entwurf für ihr künftiges Leben fertig – frei, modern, fußend auf gegenseitiger Achtung und sinnvoller Verteilung der Pflichten.
    Mit der demütigenden Abhängigkeit von den Almosen der Eltern sollte Schluß sein. Sie bezogen in Petersburg auf der Wyborger Seite eine Wohnung, darin gab es Mäuse, aber sie hatte immerhin drei Zimmer. Die brauchten sie, um so zu leben wie Vera Pawlowna und Lopuchin bei Tschernyschewski: Jeder hatte sein Revier, und das dritte Zimmer war für Gespräche und den Empfang von Gästen vorgesehen. Den

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