Tödliche Küsse
1
D ie Toten waren ihr Geschäft. Sie lebte mit ihnen, arbeitete mit ihnen, befasste sich mit ihnen. Träumte von ihnen. Und weil das immer noch nicht auszureichen schien, empfand sie in einer verborgenen, geheimen Kammer ihres Herzens obendrein ehrliche Trauer.
Zehn Jahre bei der Polizei hatten nicht ausgereicht, um sie vollkommen abzuhärten, um sie den Tod und seine zahllosen Ursachen mit demselben kalten, klinischen und häufig zynischen Blick wie viele ihrer Kollegen betrachten zu lassen. Ihre Arbeit machte Szenarien wie das momentane – ein regnerischer Abend in einer dunklen, von Unrat übersäten Straße - beinahe normal. Doch noch immer waren ihre Gefühle nicht erstorben.
Auch wenn Mord sie längst nicht mehr schockierte, stieß er sie nach wie vor ab.
Die Frau war wunderschön gewesen. Lange Strähnen goldenen Haares ergossen sich wie Sonnenstrahlen auf dem schmutzigen Gehweg. Ihre Augen, groß und voller Trauer, wie sie der Tod häufig in ihnen hinterließ, hoben sich beinahe purpurfarben von ihren blutlosen, regennassen, hohen Wangen ab.
Sie trug ein teures Kostüm, in derselben leuchtenden Farbe wie ihre Augen. Die Jacke war ordentlich bis oben zugeknöpft, der hochgeschobene Rock jedoch stellte ihre schlanken Schenkel aufreizend zur Schau. Juwelen glitzerten an ihren Fingern, ihren Ohren, am Aufschlag ihrer Jacke. Eine Ledertasche mit goldener Schnalle lag unweit ihrer ausgestreckten Finger.
Lieutenant Eve Dallas ging neben der Toten in die Hocke und sah sie sich genauer an. Die Anblicke und die Gerüche waren meist dieselben, doch jedes Mal, ja, jedes Mal, gab es irgendetwas Neues. Sowohl Opfer als auch Täter hinterließen ihre individuellen Spuren, hatten ihren individuellen Stil, machten den Mord zu etwas Persönlichem.
Sie hatten die Szene bereits gefilmt. Polizeisensoren und eine Schutzwand hielten die Schaulustigen ab und sicherten den Tatort. Der Straßenverkehr war umgeleitet, und in der Luft war derart wenig los, dass man davon nicht weiter abgelenkt wurde. Aus dem Sexclub auf der gegenüberliegenden Straßenseite drangen Musik und das gelegentliche Grölen der feiernden Gäste an Eves Ohr. Die bunten Lampen des sich drehenden Türschilds trafen pulsierend auf die Schutzwand und tauchten den Körper des Opfers in kreischend grelles Licht.
Eve hätte Anweisung erteilen können, den Club bis zum nächsten Tag zu schließen, aber das erschien ihr als ein unnötiger Aufwand.
Ein uniformierter Beamter machte weiter Video- und Audioaufnahmen der Umgebung. Ein paar Typen von der Gerichtsmedizin hatten sich zum Schutz vor dem Regen dicht neben die Abschirmung gehockt und unterhielten sich über die Arbeit und ihr Lieblingsthema, Sport. Bisher hatten sie sich noch nicht die Mühe gemacht, sich die Leiche anzuschauen, und sie demnach auch noch nicht erkannt.
War es schlimmer, fragte sich Eve, während sie mit starren Augen auf die im Regen liegende, blutüberströmte Leiche blickte, wenn man das Opfer kannte?
Auch wenn sie nur beruflich mit Staatsanwältin Cicely Towers in Berührung gekommen war, hatte sie sie gut genug gekannt, um sich eine Meinung über sie zu bilden. Sie war eine starke Frau, erfolgreich, eine unerbittliche Kämpferin für das Recht. Hatte diese Rolle sie auch hierher, in diese erbärmliche Umgebung, kommen lassen?
Seufzend beugte sich Eve über die elegante, teure Tasche und zog den Pass der Frau heraus. »Cicely Towers«, sprach sie in ihren Recorder. »Weiblich, Alter fünfundvierzig, geschieden. Wohnhaft 2132, 83. East, Nummer 61-B. Kein Raub. Das Opfer trägt immer noch seinen Schmuck und außerdem wurden ungefähr…« – sie öffnete die Brieftasche – »zwanzig Dollar in Scheinen, fünfzig Credits und sechs Kreditkarten am Tatort zurückgelassen. Keine unmittelbaren Spuren eines Kampfes oder eines sexuellen Übergriffs.«
Sie blickte nochmals auf die ausgestreckte Frau. Was zum Teufel hattest du hier nur verloren, Towers? fragte sie die Tote ehrlich überrascht. Hier, weit weg von den Zentren der Macht, weit weg von deinem eleganten Zuhause?
Sie trug Arbeitskleidung. Eve kannte die Garderobe, die Cicely Towers bei Gericht und im Rathaus getragen hatte - leuchtende Farben, für den Fall, dass sie im Rampenlicht stand, passende Accessoires, immer mit einem femininen Touch.
Eve erhob sich und rieb sich geistesabwesend die nassen Knie ihrer Jeans.
»Sie wurde ermordet«, kam die knappe Feststellung in Richtung der Mediziner. »Also, seht sie euch mal
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