Typisch Mädchen
Zeitungen etc.
Es ist nun versäumt. Aber je mehr ich mich vertiefte in das Manuskript dieses Tagebuches, desto mehr Trost erfuhr ich, denn ich sah, daß dieses Tagebuch einen Teil der erwünschten Wissensvermittlung und Entlastung für mich leistet: Es gibt mir Auskunft, es gibt mir Antworten, es hat generelle Aussagekraft. Darin liegt das Besondere dieser Aufzeichnungen. Sie erlauben mir zu extrapolieren: Wenn es so abläuft bei aufgeschlossenen Eltern, die klug und bewußt mit ihrem Kind so umgehen, daß es nicht nur eine Rolle offen hat, nämlich die, ein angenehmes, angepaßtes, unauffälliges Mädchen zu werden, was ist dann in den normalen Familien, in den Durchschnittsfamilien zu erwarten, wo die Rollen vorgegeben sind und feststehen, wo die Mutter in der Rolle der Ehefrau und Mutter aufgeht, wo sie es sich psychisch nicht leisten kann, ihren Kindern eine andere Rolle zu modellieren, und ihre Unfähigkeit als Tun, wenn nicht Opfer, für die Kinder ausgibt. Wenn es unvermeidlich ist für ein Kind, das wie Anneli aufwächst, »zu einem Mädchen zu werden«, wie unausweichbar vorgezeichnet ist dann erst recht dieser Weg für Mädchen aus normalen Familienverhältnissen. Und am wichtigsten: Diese Aufzeichnungen widerlegen ein für allemal das Argument von der Macht und der Schuld der Mütter, die, weil sie die Wiege bewegen, die Welt bewegen sollen. Wie können einfache Tagebuchaufzeichnungen von alltäglichen Erlebnissen einer Mutter mit einem kleinen Kind das leisten? Was ist denn überhaupt so schlimm daran, wenn aus einem weiblichen Baby ein Mädchen wird? Was für ein Schaden soll da angerichtet sein?
Das Tagebuch gibt Auskunft: Wir lesen eine Szene nach der anderen, Alltagsbegebenheiten, auf deri ersten Blick zunächst harmlos, trivial, banal, aber jede Szene endet mit einer kleinen Trauer in uns:
Darüber, daß Anneli, da, wo sie sich für einen erlegten Hirsch interessiert und sie selbstverständlich für einen Jungen gehalten wird, der Beruf des Jägers offengehalten wird. Wie anders ergeht es ihr, als sie dann von Jagd und Hirsch und dem Ausnehmen des Tieres, das sie beobachtet hat, da erzählt, wo bekannt ist, daß sie ein Mädchen ist: Sie darf nun nur noch Metzgersfrau werden. Es war dasselbe Interesse eines Kindes an einem erlegten Hirsch und den Aktivitäten, die es beobachtete.
Oder darüber, wie Anneli im Alter von zweiein viertel Jahren lernt, daß ein Junge seine Richtung beibehalten kann und sie ausweichen muß, soll es nicht zum Zusammenstoß kommen. Seine Absicht geht vor.
Oder darüber, wie sie im Alter von zwei Jahren und acht Monaten lernen muß, einen Ball aufzugeben, weil ein Junge ihn ihr wieder und wieder wegnimmt. Sein Interesse geht vor.
Oder darüber, daß ihr, wo sie für einen Jungen gehalten wird,
Aktivität, Kompetenz, Neugier, Lust, die Weit zu erobern, zugeschrieben werden, und wo sie sich als Mädchen zu erkennen gibt, ihr die Eroberung der Küche übrigbleibt. Es waren dieselben Bewegungen und Gesten eines Kindes, dasselbe Interesse an der Umgebung.
Und so entsteht für Anneli die getrennte Welt, eingeteilt in Mädchen und Jungen, mit getrennten Reaktionen, Funktionen, Möglichkeiten, mit getrennten Gefühlen. Als Mädchen bleibt ihr die kleinere »Hälfte« der Welt. Das ist das Schlimme daran, ein Mädchen zu werden und werden zu müssen. Und es entsteht die getrennte Welt von Frauen und Männern, in der Frauen schön, nackig oder Mamis sind und in der Männer interessante Dinge tun: »Mann redet - Frau nackig.« Das ist der Schaden, der angerichtet wird: daß Mädchen-Sein bedeutet, eine Frau werden zu müssen.
Die beiden eindrucksvollen Zwei-Wort-Sätze »Mann redet« und »Frau nackig« sind Situationsbeschreibungen von Anneli, die sie zur Verzweiflung ihrer Mutter immer wieder machte, weil sie sie immer wieder beobachtete. Jedes Mal, wenn sie einen Mann reden hörte, stellte sie lakonisch fest: »Mann redet.« Und ebenso äußerte sie, wenn sie die Abbildung einer nackten Frau sah, kurz und bündig: »Frau nak-kig.« Durch wiederholtes Sehen und Beschreiben lernte sie die unterschiedlichen Eigenschaften von Frauen und Männern in unserer Welt. Wir erleben plötzlich beim Lesen unsere Welt durch die Kinderaugen und sehen wieder, was wir schon nicht mehr sehen und nicht mehr sehen wollen. Und erleben auch, wie fest sich diese Welt in ein Kinderköpfchen einprägt - mit zwei, drei Jahren hat das Kind Kategorien gebildet, die nicht mehr aufhebbar sind. Wir
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