Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
London,
September 1618
Aqua Vitae. Das Getränk wärmte den Magen, vernebelte die Sinne und half dabei, die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten zu vergessen. Es war Richard Waltons Lebenselixier. Der Saft, der ihn am Leben hielt, seine Medizin gegen Selbstzweifel und Angst, die ihn großzügig alle eigenen Fehler verzeihen ließ. Nichts hätte er im Moment dringender gebraucht als jenen starken Brand gemalzter Gerste, den man in der Heimat seiner Mutter Usquebaugh nannte. Ein Wort, das nur aus dem Mund eines Schotten so klang, wie der Brand schmeckte: herb, scharf und, erst wenn er längst den Gaumen passiert hatte, überraschend malzig mild. Aber ausgerechnet jetzt war Richard so trocken wie selten zuvor. Dabei befand er sich an einem der feuchtesten Orte der Stadt: auf einem wackeligen Ruderboot mitten auf der Themse.
Angeekelt hielt er sich die Hand vor Nase und Mund, um sich vor dem entsetzlichen Gestank zu schützen, der vom Wasser her aufstieg. Er hasste schlechte Gerüche. Konnte es sein, dass alle Bewohner Londons ihren Abfall in den Fluss kippten? Schwamm dahinten ein totes Kaninchen? Oder waren es die Überreste eines üppigen Abendessens? Wegen des immer dichter werdenden Nebels und der mondlosen Dunkelheit der Nacht konnte Richard nicht erkennen, worum es sich bei dem leblosen Bündel handelte, das auf der schwarzen Wasseroberfläche neben ihm trieb. Süßlicher Leichengeruch stieg ihm in die Nase, und er schluckte hart, um ein Würgen zu unterdrücken. Vergeblich versuchte er seine Gedanken auf erfreulichere Dinge zu lenken, zum Beispiel auf seine hübsche Frau Julia. Aber sosehr er sich auch konzentrierte, das Bild wollte nicht auftauchen.
Nun durchdrang die stinkende, feuchtkalte Nachtluft seinen Mantel und kroch ihm bis unter die Haut. Richard zitterte, doch das Klappern seiner Zähne rührte nicht von der Kälte, sondern von seiner Angst. Sein Ziel war der Tower. Er war noch nie zuvor in der Festung gewesen. Es hieß, nur wenige Männer, die das Gebäude betraten, verließen es lebend.
Was hätte er jetzt für eine Flasche Aqua Vitae gegeben. Das Getränk hätte ihm geholfen, sein Zittern zu verbergen. Aber bevor er in das wackelige Boot des alten Fährmanns gestiegen war, hatte Tom ihm die Flasche mit dem kostbaren Inhalt abgenommen. Wie einem Kleinkind, dem man ein Stück Kuchen verweigerte.
»Denkt an Julia«, hatte der Diener seiner Frau gesagt und ihn anklagend angesehen. So wie er es immer tat, wenn Richard sich Mut antrank, was in den letzten Jahren immer öfter geschehen war. Er wusste genau, warum er den Saft dringend brauchte, doch die Antwort war so entsetzlich, dass er sie vergessen wollte.
Sein Boot, das bisher lautlos durchs eiskalte Wasser geglitten war, schrammte nun unsanft gegen eine graue Steinmauer, die plötzlich aus dem dicken Nebel auftauchte.
Der Fährmann, ein alter, zahnloser Mann mit einem Mantel, der aussah, als diente er einem ganzen Heer von Wanzen und Flöhen als Unterkunft, hob den Kopf und nickte ihm zu. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Nur widerwillig erhob sich Richard von der nassen Holzbank. Er war das Schwanken des kleinen Bootes nicht gewöhnt und wankte unbeholfen an dem alten Mann vorbei, bemüht, den Mantel nicht zu berühren. Ungeschickt kletterte er eine feuchte, glitschige Strickleiter hoch. Seine glatten Stiefelsohlen und seine klammen Finger drohten am kalten Schleim, den Wasser und Algen hinterlassen hatten, abzurutschen. Aber er gelangte oben an, landete allerdings unsanft auf allen vieren. Schon als Kind hatte er Klettern und Balancieren gehasst. Warum sollte er jetzt als Erwachsener Freude daran haben?
Für einen kurzen Moment war er dankbar für den dichten Nebel und die Dunkelheit. Erst als er sich wieder aufrichtete und rasch seine Hosen abklopfte, erblickte er den jungen Wachmann in königlicher Uniform. Richards Unbehagen wuchs. Was hatte er erwartet? Dass man ihn allein in den Tower spazieren ließ? Der Bursche war sehr jung, Richard schätzte ihn auf zwanzig Lenze oder weniger. Trotzdem hatte er Schultern, die doppelt so breit waren wie Richards. In seiner Linken hielt er eine rußende Fackel, seine Rechte ruhte auf dem Griff einer Waffe. Ein Degen, der in einem ledernen Gürtel steckte.
»Master Richard Walton?«, fragte der Junge. Seine Stimme überschlug sich, als wäre er immer noch im Stimmbruch.
»Habt Ihr jemand anderen erwartet?«, fragte Richard, bemüht, lässig zu klingen.
Der Junge antwortete nicht und bedeutete ihm zu
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