Vergangene Zukunft
Sally
Für die Psychoanalyse im Freud’schen Sinn habe ich nie besonders viel übrig gehabt. Wenn man die Freud’sche Lehre beherrscht und über hinreichende geistige Fähigkeiten verfügt, kann man nahezu jeden Satz (rational, irrational oder sinnlos) in ein sexuelles Symbol übersetzen und danach höchst wissenschaftlich über das Unbewußte daher quatschen.
Ich weiß nicht, was mein Unterbewußtsein ist, und es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nicht einmal ganz sicher, ob ich auch wirklich ein Unterbewußtsein habe. Man hat mir erzahlt, daß das Unterbewußtsein eines Menschen seine Persönlichkeit so verändern kann, daß ihm nur ein intensives Studium dieser versteckten geistigen Faktoren und die Behandlung durch einen Psychoanalytiker helfen kann.
Mag sein. Aber meine einzige Eigenschaft, die mir bedenklich genug erscheint, um ihretwegen einen Psychoanalytiker aufzusuchen, ist mein geradezu leidenschaftlicher Drang zu schreiben. Wenn ein Psychoanalytiker mich von diesem Drang befreien würde, fände ich mehr Zeit, in der Sonne zu liegen, Golf zu spielen und all das zu tun, was eben Leute tun, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen.
Aber das will ich nicht, vielen Dank. Ich kenne meinen Drang zu schreiben, ich mag ihn, und ich will ihn auch behalten. Es kann ja jemand anderer an meiner Stelle in der Sonne liegen oder Golf spielen.
So hoffe ich, daß nie jemand auf die Idee kommt, meine Geschichten einer Psychoanalyse zu unterziehen, mit einer genauen Erklärung meiner Triebe, Komplexe und Neurosen zu mir kommt und dann womöglich noch erwartet, daß ich ihm dafür dankbar bin. Die versteckten Bedeutungen meiner Erzählungen interessieren mich überhaupt nicht. Wenn Sie sie e ntdecken sollten, dann behalten Sie das bitte für sich. Und damit komme ich zu »Sally«. Er ist wohl bekannt, daß der Durchschnittsamerikaner sein Auto mit einer Art pseudosexuellen Leidenschaft liebt. Sollte ich vielleicht ein Ausnahmeamerikaner sein?
Jeder, der meine Erzählung »Sally« liest, wird spüren, daß ich mich sehr stark zu der Hauptperson hingezogen fühle. Wahrscheinlich wird in »Sally« etwas von meinem eigenen Leben enthüllt. Am Ende der Erzählung tut Sally tatsächlich etwas, das jedem Amateur-Freudianer viel Stoff zum Nachdenken geben wird. (Finden Sie es nur selbst heraus. Es ist gar nicht so schwierig.) Das sexuelle Symbol ist offenkundig, und jeder Mode-Psychiater kann sich meinetwegen zu Tod lachen über die seltsamen Vorgänge in meinem Unterbewußtsein, die er vielleicht auf Grund dieser Erzählung entdeckt.
Aber er irrt sich. Mein Unterbewußtsein hat gar nichts mit »Sally« zu tun. Ich habe diese Geschichte sehr sorgfältig und mit vollem Bewußtsein ausgearbeitet.
Sally kam die Seestraße herab, und ich winkte ihr zu und rief ihren Namen. Ich mochte Sally sehr gern. Ich mochte natürlich viele sehr gern, aber Sally war die hübscheste, ohne Frage.
Sie begann sich etwas schneller zu bewegen, als sie mich entdeckte. Nichts Würdeloses lag darin, das gab es gar nicht bei ihr. Sie bewegte sich nur ganz einfach schneller, weil sie ausdrücken wollte, daß sie sich eben so sehr freute, mich zu sehen.
Ich wandte mich dem Mann zu, der neben mir stand.
»Das ist Sally«, sagte ich.
Er lächelte und nickte.
Mrs. Hester hatte ihn zu mir geführt.
»Das ist Mr. Gellhorn, Jake«, hatte sie gesagt. »Sie erinnern sich doch an seinen Brief, in dem er Sie um eine Verabredung bat.«
Das war natürlich nur Gerede. Ich habe tausend Dinge auf der Farm zu tun, und ich kann wirklich nicht meine Zeit damit vergeuden, die Post zu lesen. Dafür habe ich Mrs. Hester. Sie hält mir den täglichen Kleinkram vom Leib, belästigt mich nicht mit allem möglichen Unsinn, und was das Wichtigste ist, sie mag Sally und all die anderen. Einige Leute tun das nicht.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Gellhorn«, sagte ich.
»Raymond J. Gellhorn«, stellte er sich vor und reichte mir die Hand.
Er war einen halben Kopf größer als ich und auch breiter. Er war ungefähr halb so alt wie ich. Sein schwarzes Haar war durch einen Mittelscheitel geteilt und glatt an den Kopf gekämmt, und ein dünner, sorgfältig gestutzter Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Seine breiten Kinnbacken gaben ihm ein Aussehen, als leide er ständig an Mumps. Im Fernsehen hätte er einen prima Schurken abgegeben, und deshalb beschloß ich sofort, ihn für einen netten Kerl zu halten, wenn man wirklich einer
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