Ueber Den Deister
zwang sich, die Dreiviertelstunde, die er sich vorgenommen hatte, durchzuhalten. Am nächsten Morgen taten seine Knie weh, und seine Muskulatur fühlte sich eher geschwächt an. Er fand glücklicherweise einen Artikel in einer medizinischen Zeitschrift, der vor möglichen Schäden an Gelenken durch Joggen warnte. Daraufhin ließ Marder das Joggen wieder sein und nahm sich vor, häufiger mit seiner Frau spazieren zu gehen.
Im ersten Winter seines Ruhestandes schrieb er sich an der Universität in Hamburg als Gasthörer ein. Er hatte in seiner Jugend das Studentenleben nicht kennengelernt, und oft beschlich ihn das Gefühl, etwas Schönes und Aufregendes verpasst zu haben. Jeden Dienstagvormittag hörte er eine Vorlesung über die griechischen Philosophen und deren Vorstellungen von der Welt. Der Professor war ein kluger Mann, der alles über die großen Denker der Antike wusste. Marder war tief beeindruckt und bewunderte ihn dafür, dass er die Gedanken und Erkenntnisse dieser Weisen, die vor mehr als zweitausend Jahren gelebt hatten, in so einfachen Worten vermitteln konnte, dass selbst er als ehemaliger Beamter sie verstand.
Nach der Mittagspause nahm er an einem Seminar über die Geschichte des heutigen Niedersachsen im Mittelalter teil. Im Mittelalter hatte zwar noch niemand etwas von einem Bundesland Niedersachsen gehört, weil es erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden worden war – aber Menschen lebten hier natürlich schon seit vielen Jahrhunderten. Das Seminar war eine Enttäuschung für ihn, nicht wegen des Professors, sondern wegen der Studenten. Bei der Einführung in das Seminar forderte der Professor die Anwesenden auf, sich für kurze Referate zu melden. Die wenigen, die dies taten, akzeptierten diese Aufgabe offensichtlich vor allem nur deshalb, weil sie dadurch die Scheine erwerben konnten, die sie für einen Studienabschluss brauchten. Marder empfand ihre Referate meistens als inhaltlich und rhetorisch eher bescheiden.
Zum Abschluss seines akademischen Tages besuchte er ein Seminar der soziologischen Fakultät, das sich mit Verhalten von Gruppen in der Gesellschaft befasste. Der Professor hatte einige Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, aus denen er langatmig rezitierte. Wenn er das nicht tat, sprach er über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Jede Woche erschienen weniger Studenten, bis nur noch einige Senioren als Gasthörer übrig blieben. Da beschloss auch Marder, nicht mehr teilzunehmen, er verstand ohnehin oft nicht, was der Dozent meinte, oder er war aufgrund seiner Erfahrungen mit Menschen als Kriminalkommissar anderer Meinung.
Die Universität hatte nun, im Juli, ihre Studenten und Professoren längst in die Sommerpause entlassen. Marder und seine Frau Iris waren die vergangenen zwei Wochen in einem Ferienhaus an der dänischen Westküste gewesen – es war dasselbe Haus wie im Jahr zuvor und dem Jahr davor. Marder liebte es, Urlaub in Gegenden zu machen, an die er bereits schöne Erinnerungen hatte und wo er sich auskannte. Er versprach seiner Frau, dass es endgültig der letzte Sommerurlaub im Norden gewesen wäre. Im nächsten Jahr würde er mit ihr nach Italien fahren, dann wären seine italienischen Sprachkenntnisse so weit restauriert, dass er sie sicher durch die Olivenhaine und die klassischen Ruinen Italiens geleiten könne.
Im Juni und Anfang Juli hatte es fast ununterbrochen geregnet. Es war zu kalt für die Jahreszeit, wie es im Wetterbericht täglich hieß. Die Erde im Garten verwandelte sich in Morast, der Rasen quakte jedes Mal vor Nässe, wenn man ihn betrat. Vor drei Tagen hatte sich das Wetter allerdings mit unerwarteter Heftigkeit zum Besseren gewandelt. Ein muskulöses Hoch aus dem Südosten verjagte alle Wolken über Nacht und brachte gleichzeitig die heißen Temperaturen der afrikanischen Wüste mit. Der Wettermann im Fernsehen jubelte, als habe er das persönlich arrangiert. Er versprach eine lang anhaltende Periode von Hochsommerwetter, wahrscheinlich sogar mit Rekordtemperaturen – mindestens für den Rest des Julis und vermutlich auch für den August.
Marder wusste nicht, ob er in den Jubel einfallen sollte – Temperaturen über dreißig Grad machten ihn schlapp, müde und lustlos. An heißen Tagen versuchte er, im Schatten zu bleiben, sich sparsam zu bewegen und auf den Sonnenuntergang zu warten. Am besten gelang ihm das auf der Terrasse seines Hauses mit einem kalten Getränk in der einen und einem Kriminalroman in der anderen Hand.
Das war auch
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