Ueber die Liebe und den Hass

Wie sie einander anschauten. Es wirkte alles perfekt. Die Bräute waren schön, die Bräutigame ein wenig verlegen, aber dennoch männlich und gutaussehend. Mir fiel auf, dass jedes Paar dieselbe Haltung einnahm, dieselbe Ausstrahlung auf den Fotos hatte. Als würden sie alle einer geheimen Regie folgen. Es würde nicht einmal auffallen, wenn ich die Paare untereinander austauschte.
    Wie eine Schicht lag das Unechte auf diesen Fotos, und jetzt, da es mir zum ersten Mal auffiel, wollte ich sie davon befreien. Ihr wahrer Charakter musste wieder sichtbar werden, soweit das möglich war. Ich war davon überzeugt, dass ich Großes bewirken konnte. Nach meinem Diplom hatte ich die einfachen Aufträge abgelehnt. Nur die Kunst konnte mich reizen.
    Doch es hatte nicht lange gedauert, bis ich mich den Gesetzmäßigkeiten der freien Wirtschaft beugen musste. Das Material, das ich für meine Kunst benötigte, kostete viel Geld, und die Möglichkeit, auf Hochzeitsfeiern zu fotografieren, bot sich mir eher zufällig.
    Damit ist auch kein Blumentopf zu gewinnen, dachte ich.
    Aber jetzt konnte ich etwas realisieren. Ich würde die Fotos von der dicken Make-up-Schicht befreien, von Glitzerkleidern und jedem peinlich makellosen Lächeln.
    Schicht für Schicht schälte ich die Kleidung ab und stellte ihr wahres Wesen zur Schau.
    Fotoshop ist ein Wundermittel.
    Bei einigen Frauen zögerte ich, ob ich das Kopftuch vielleicht besser draufließe.
    Den ganzen Morgen arbeitete ich an meinem Projekt.
    Vor allem die Familiengruppenfotos ergaben überraschende Ergebnisse. Mütter mit Rubensfiguren, junge muskulöse Männer und frivole pubertierende Mädchen, die wie ein Blumengesteck rechts und links der Braut posierten. Ohne Kleidung und Schmuck sahen sie richtig unbesorgt aus. Wie ein Naturvolk aus Neuguinea. Nur die Schuhe verrieten noch etwas Aktualität.
    Das könnte wirklich was werden, überlegte ich. Paris, London, vielleicht sogar New York.
    Das letzte Foto, das ich mir vornahm, war eine Nacktaufnahme von drei Personen.
    Ein schönes Brautpaar, das auf einem goldenen Thron saß, in der Mitte eine Frau, die sich bückte, das Hinterteil arrogant in die Höhe gestreckt.

Glossar
    Abd el-Krim: Führer der Rif-Kabylen und u. a. 1920 Organisator des Widerstands gegen die spanische Besatzung
    Abu Huraira (wörtl. Vater des Kätzchens): Prophetengefährte und Erzähler angeblicher Worte und Taten des heiligen Propheten Mohammed
    Aîth Ahros: Bevölkerungsgruppe aus dem Rif
    al-Âchira: Jenseits
    alhamdulillah: »Gelobt sei Gott« oder umgangssprachlich »Gott sei Dank«
    Allah i rahmu: »Gott hab ihn selig«
    Allah subhanahu wa ta’ala: »Gepriesen und erhaben ist Allah«
    Amal: Mädchenname, bedeutet »Hoffnung«
    amazigh: freier Mann
    amin: amen
    ammetis: Schläfer
    aya: ein einzelner Vers des Korans
    baraka: Segenskraft
    bismillahirrahmanirrahim : »Im Namen Allahs des Allerbarmers des Barmherzigen«
    bunica (rum.): liebevoller Ausdruck für Großmutter
    dhikr: Gedenken an Gott; im Islam die intensive Anbetung Allahs
    dschahiliyya: islamische Bezeichnung für die präislamische Epoche der »Unwissenheit«
    dschahnnam: bezeichnet im Islam die Hölle
    dschihab: Versprecher von hidschab
    dschihad: Kampf, im europäischen Sprachraum oft mit »Heiliger Krieg« übersetzt
    dschnun: die arabisch im Plural dschinn genannten Geister werden im Marokkanischen dschnun (Singular männlich dschenn , weiblich dschenniya ) genannt
    El Kharij : der Westen
    fatwa : islamisches Rechtsgutachten, das in der Regel von einem Mufti (Rechtsgelehrter, Spezialist für die islamische Jurisprudenz Figh) zu einem speziellen Thema herausgegeben wird
    fitna : mehrere Bedeutungen, hier: Chaos, Unruhe
    Flamani: marokkanischer Ausdruck für die Flamen (Belgien)
    Furkan: Jungenname, bedeutet »der, der das Falsche von dem Richtigen trennen kann«
    gadjo (rum.): die Fremden, Nicht-Roma
    hadith: (Mitteilung, Erzählung, Bericht) steht für überlieferte Nachrichten im Islam sowohl profanen als auch religiösen Charakters
    halal: (erlaubt, zulässig) Dinge und Taten, die nach islamischem Recht erlaubt und zulässig sind
    haram: (verboten, tabu) steht im islamischen Recht für das islamrechtlich Verbotene
    Hayati : Name, bedeutet »mein Leben«
    hidschab: Kopftuch
    Idd : Feiertag
    Idd al Adha : islamisches Opferfest
    Imam Ali : Neffe und Schwiegersohn von Mohammed; für die Schiiten sein rechtmäßiger Nachfolger
    Imam : Vorsteher, Vorbild; Vorbeter beim islamischen