Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Das Traumcafé einer Pragerin
Wohin, so frage ich mich oft, wenn ich durch mein Prag streife, wohin sind die Kaffeehäuser verschwunden, in denen man über einer Tasse schwarzen Kaffees (den sogenannten türkischen gab es ja bei uns, Gott sei Dank, überhaupt nicht) einen halben oder beinahe den ganzen Tag diskutieren und Pläne schmieden, viel erfahren, interessante Menschen beobachten oder auch kennenlernen, Freundschaften schließen oder gar eine große Liebe finden konnte? Und weil es sie nicht mehr gibt, diese Zufluchtswinkel ferner Jahre, spinne ich jetzt gern an einem ganz persönlichen Prager Traum.
Irgendwo in dem schleierhaften blau-grauen Dunst über den von Grünspan bezogenen Kuppeln und den gestrengen Kirchtürmen, glaube ich in solchen Augenblicken zu wissen, gibt es ein Café mit vielen Tischchen, und von jedem kann man hinunterblicken in unsere Stadt, und die das von dort aus tun, haben hier fast alle einmal gelebt. Und ich habe sie gekannt. Gewiß, manche nur aus Büchern – aus von ihnen geschriebenen Büchern oder aus solchen über sie –, manche nur von Bildern, andere durch ihre Musik. Einige standen mir nahe, die habe ich gut gekannt, war mit ihnen befreundet und bin es auch, trotz der kosmischen Entfernung zwischen uns, sozusagen weiterhin geblieben. Die legen mitunter des Himmels Tagblatt beiseite und beobachten mich von ihrem luftigen Stammcafé aus.Manchmal schütteln sie dabei erstaunt oder mißbilligend den Kopf, können nicht verstehen, wenn ich mich in etwas stürze, das ihnen, da sie sich ja nicht mehr unter uns bewegen, übertrieben oder gar nutzlos erscheint, halten mir aber dennoch den Daumen, damit es gelingt. Oder sie raten mir – und das geschieht immer häufiger –, lieber etwas kürzer zu treten nach all den Jahren mit ihren zahlreichen bösen und guten, oft kaum faßbaren sturzartigen Veränderungen. Ich sollte mich schon etwas zurückhalten, meinen sie, es gibt doch so viele neue, begabte Akteure . . .
Wäre ich gläubig, könnte ich meine Freunde hoch oben in dem überirdischen Kaffeehaus als eine Art Schutzengel ansehen. Allerdings, die Personen, die mein Traumcafé frequentieren, hatten, so lange sie unter uns weilten, mit solchen himmlischen Wesen kaum etwas gemein. Aber wer weiß!
Übrigens – Schutzengel für mich? Welcher Gott könnte sie mir denn schicken? Und in welcher Sprache sollte ich ihn anrufen? Im Deutsch meiner Mutter, im Tschechisch meines Vaters oder im Hebräisch meiner Vorfahren? Aber vielleicht bedient sich der liebe Gott an der Schwelle des künftigen Jahrtausends einer neuen, uns noch unbekannten Sprache, um alle Bewohner der Erde über ihre unvernünftigen künstlichen Grenzen hinweg einem ertragbaren Miteinander zuzuführen. Ein solcher Gott wäre fürwahr unser Erlöser. In Prag hat er sich noch nicht gezeigt.
Und so widerfährt es mir, daß ich mich, in Bedrängnis geraten, mitunter bittend oder gar beschwörend an die Stammgäste des Traumcafés wende: Ihr dort irgendwo, so helft mir doch, ihr wißt ja, was ich jetzt tun oder entscheiden muß. Soll ich oder soll ich nicht? Sonderbar –oft weiß ich dann mit einem Mal wirklich, glaube zumindest zu wissen, was ich tun oder nicht tun soll. Also doch Schutzengel? Über einer Tasse überirdischen Kaffees? Warum eigentlich nicht.
Am Ende der dreißiger Jahre wohnte ich in der Prager Melantrichgasse Nr. 7. Die Nummer 14 mit dem prächtigen Bärenportal ist das Geburtshaus des Schriftstellers Egon Erwin Kisch. Als ich in der Nr. 7 mein Dachzimmer bezog, lebte im Bärenhaus noch Mutter Kisch, verehrt und geliebt nicht nur von ihren Söhnen, auch von deren breitem Freundeskreis. Wie alt wäre sie jetzt, wo doch ihr Egonek schon auf mehr als einhundertundzehn Jahre zurückblicken kann? Was würden die beiden zur heutigen Melantrichgasse sagen?
Nunmehr befindet sich hier ein feines Restaurant mit entsprechend feinen Preisen, das Restaurant Mucha heißt, mit unserem Landsmann, dem Maler Alphonse Mucha, wohl aber nur den Namen gemein hat; ferner der Laden einer Firma mit Gesundheitskost namens Country life und gegenüber meinem einstigen Wohnhaus eine elegante kleine Cafeteria. In den letzten Vorkriegsjahren gab es dort ein Stundenhotel, auf dem Gehsteig davor standen abends die Mädchen herum, und die häufigsten Passanten in der kurzen Straße waren neben ihren Kunden Literaten, aus Hitlers Drittem Reich emigrierte Antifaschisten und Egon Erwins Prager Freunde, die alle bei Mutter Kisch Kaffee
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