Gefaehrliche Spur
1
Portland, Maine, 2. April
S ilas Petersen blickte aus dem Fenster des Pontiac Trans Sport auf die Bä u me, die die Longwoods Road Richtung Cumberland säumten. Die Frühling s sonne strahlte , und obwohl es Anfang April in Maine noch lausig kalt war und stellenweise Schnee lag, hatte Silas das Gefühl, von Licht und Wärme eingehüllt zu sein. Nur teilweise eine Illusion, denn die Sonne schien ihm ins Gesicht, und die Heizung des Wagens sorgte für eine angenehme Temper a tur. Dass es ihm heller und wärmer vorkam, als es war, lag an dem Glück, das er fühlte und das er schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte. I m mer wieder sah er zum Fahrer des Wagens, um sich zu vergewissern, dass er immer noch da und vor allem real war.
Der Mann bemerkte seinen Blick und lächelte. „Keine Angst, Mr. Petersen, es ist alles echt.“
„ Sorry, Sir. Aber das fällt mir schwer , zu glauben. Dass einer wie ich so viel Glück haben soll …“ Er schüttelte den Kopf.
Das Glück hatte Silas schon vor Jahren verlassen, als er seinen Job verloren hatte und die Hypotheken fürs Haus nicht mehr bezahlen konnte. Idiot i scherweise hatte er versucht, das erforderliche Geld durch Glücksspiel he r einzubekommen, was die Abwärtsspirale noch beschleunigt hatte. Nun saß er auf der Straße, ohne Haus, Geld oder Zukunft, schlief in Hauseingängen und Hinterhöfen unter Pappkartons und alten Zeitungen und fürchtete jedes Jahr, dass er den Winter nicht überleben würde. Dass dieses Elend ein Ende haben sollte, war unfassbar.
„ Glauben Sie es, Mr. Petersen, Sie haben das Glück. Leider können wir nicht alle Bedürftigen auf einen Schlag von der Straße holen und vermitteln. Aid for the Homeless ist eine noch recht junge Organisation. Sobald wir mehr Gelder bekommen, können wir in größerem Umfang tätig werden. Bis dahin müssen wir uns damit begnügen, der Reihe nach denen zu helfen, d e nen wir noch helfen können, indem wir sie in Obdach und Arbeit vermi t teln.“
Silas dankte Gott, dass er sich noch nicht, wie viele andere Leidensgeno s sen, so weit aufgegeben hatte, dass er nur noch dahinvegetierte, sich die H u cke vollsoff und auf das unausweichliche Ende wartete. Er hatte immer wi e der versucht, kleine Jobs zu bekommen. So war Morton Caine auf ihn au f merksam geworden, der ihn engagiert hatte, seinen Wagen zu waschen. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Caine hatte ihm angeboten, ihn in das Programm von Aid for the Homeless zu bringen. Und nun, nur drei Tage später, war er auf dem Weg in eine sonnigere Zukunft.
„ Wir bringen Sie erst mal bei einem unserer Sponsoren unter“, sagte Caine. „Dort bleiben Sie, bis Sie wieder vollständig in ein würdiges Leben zurückg e kehrt sind und wir einen Job für Sie haben, der Ihren Fähigkeiten und Ihrer Ausbildung entspricht. Wird nicht lange dauern.“ Er lächelte.
„ Ja, Sir. Danke, Sir.“
Caine deutete mit dem Daumen über die Schulter auf den Rücksitz, wo n e ben Silas’ dünnem Rucksack, der seine gesamten Habseligkeiten enthielt, ein Karton mit Lebensmitteln stand, in dem auch eine Thermosflasche steckte. „Trinken Sie einen Schluck Kaffee. Wird noch eine Weile dauern, bis wir da sind.“
Silas angelte die Flasche heraus, schraubte den Deckel ab, goss den Kaffee ein und hielt ihn Caine hin, der mit einem Kopfschütteln ablehnte. Silas wärmte eine Weile seine Hände an dem Becher, ehe er trank. Der Kaffee war stark gesüßt, aber das machte ihm nichts aus. Bald würde er wieder selbst Kaffee kochen können, soviel er wollte und ihn so trinken, wie er ihn moc h te. Wahrscheinlich hatte Caine den Kaffee mit Süßstoff gesüßt, denn Silas schmeckte eine leicht bittere Note heraus, sodass er den Becher schnell au s trank. Ihm wurde schwindelig. Das lag wahrscheinlich daran, dass er nicht gefrühstückt hatte. Starker Kaffee auf nüchternen Magen, der den Kreislauf zu schnell ankurbelte, hatte manchmal diese Wirkung auf ihn. Er lehnte sich gegen die Wagentür und atmete ein paar Mal tief durch. Doch statt dass es ihm dadurch besser ging, wurde ihm noch schwummeriger. Er blickte Caine an und wollte ihn bitten, das Fenster herunterzulassen, damit er frische Luft bekam. Aber er brachte keinen Ton heraus. Ihm wurde schwarz vor Augen.
*
Morton Caine lächelte zufrieden, als er sah, dass der Mann neben ihm b e wusstlos geworden war. Hervorragend. Hätte er den mit K .-o. -Tropfen ve r setzten Kaffee abgelehnt, hätte Morton ihn auf andere
Weitere Kostenlose Bücher