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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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hatte, in dem nur Pädophile und Vergewaltiger einsaßen. Das waren die einzigen Gefangenen, die man nie mit anderen Häftlingen zusammenbringen durfte; selbst bei Arbeiten im Freien, auf dem Feld oder im Weinberg, musste man immer darauf achten, dass ein genügend großer Sicherheitsabstand zu den anderen bestand.
    Seit der neue Direktor das ganze System auf den Kopf gestellt hatte, arbeitete Nitti schichtweise in allen Zweigstellen, auch im Sondergefängnis, alle sechs Wo chen. Doch als er damals, vor zehn Jahren, frisch von der Ausbildung auf die Insel gekommen war, hatte man ihn eben diesem »Kittchen« zugewiesen. Der Leiter des Gefängniskomplexes hatte ihn fest angesehen und gesagt: »In Ordnung, Engelsgesicht, deine Vorgesetzten haben mir berichtet, dass du ein guter Mann bist. Ich will dir Ärger ersparen. Du kommst zu den Kinderschändern und Vergewaltigern.«
    Zunächst hatte er an einen üblen Scherz geglaubt. Doch es stimmte tatsächlich: Die Außenstelle für Häftlinge mit Sexualdelikten war gar nicht so übel, ja, der Dienst war so leicht wie in kaum einer anderen Abteilung.
    Hier gehörte keiner der Inhaftierten irgendeiner Organisation an, einer Bande, einer bewaffneten politischen Gruppe oder der Mafia. Es waren Männer, die zutiefst einsam waren, innerlich zerstört und daher wehrlos gegenüber dem Gefängnisbetrieb. Völlig anders als die Terroristen, egal ob rot oder schwarz. Die bildeten selbst im Knast feste Gruppen, und hatte man mit einem von denen Ärger, musste man sich auch vor dessen Genossen in Acht nehmen. Die mochten sich korrekt verhalten und vielleicht sogar gebildet sein, sahen in einem aber nur die Uniform. Oder, wie sie selbst sagten: den Staat. Und diesem verhassten Staat wünschten sie nur eines: dass er möglichst bald zugrunde ging. Also auch du.
    Vergewaltiger dagegen waren nicht einmal so gefährlich und gewalttätig wie Berufsverbrecher. Denn auch die hingen alle irgendwie zusammen, waren verwickelt in ein Netz aus Fehden, Blutrache und Konkurrenzkämpfen, von dem man von außen unmöglich etwas erahnen konnte, bis man dann eines Tages beim Hofgang unter einem Vorwand abgelenkt wurde. Und kaum hatte man kapiert, dass irgendwas im Busch war, hatten die schon in deinem Rücken jemanden niedergestochen. Wenn man dann aber von dem armen Kerl, falls er überlebte, wissen wollte, wer das getan hatte, kam das große Schweigen. Der hätte nichts verraten, nicht mal unter Folter.
    Darüber hinaus waren die Pädophilen auch nicht so verschlagen und verlogen wie Drogenabhängige und Dealer, die immer versuchten, einen auf ihre Seite zu ziehen. Die wollten zunächst nur eine Zigarette, dann einen kleinen Gefallen, dann einen größeren, bis man plötzlich mit einem tückischen Leim aus Erpressung, Mitleid und Verachtung beschmiert war, der einen dazu verleitete, weniger auf der Hut zu sein, und dann durftest du dich nicht wundern, wenn praktisch vor deinen Augen der Stoff ins Gefängnis geschleust wurde.
    Ja, der Direktor hatte ihm damals tatsächlich einen Gefallen getan: Pädophile und Vergewaltiger waren die Häftlinge, die einem am wenigsten Scherereien machten.
    Von den Zellen im Bauch der Fähre war heute nur diese eine belegt. Bei rauer See, wenn die Motoren lärmten und der Fußboden unter den Füßen weg sackte, drehte es Nitti dort unten regelmäßig den Magen um. Doch noch schlimmer war es, wenn Häftlinge seekrank wurden: Männer in Handschellen von der Kotze zu säubern, war keine angenehme Tätigkeit. Ein Glück also, dass heute nicht getanzt wurde. Bislang zumindest nicht, denn dieses schmutzige Weiß gestern Abend am Himmel verhieß nichts Gutes. Sie durften keine Zeit verlieren und mussten so schnell wie möglich alle wieder auf der Mole versammeln, damit die Fähre spätestens gegen ein Uhr zur Rückfahrt ablegen konnte. Denn dass das Wetter umschlagen würde, war klar zu erkennen.
    In der letzten Woche hatte es einen Brückentag mit entsprechend vielen Besuchern gegeben. Heute ging es sehr viel ruhiger zu. Die meisten Passagiere auf der Fähre gehörten zum Gefängnispersonal oder zu dessen Familien oder arbeiteten in der Krankenabteilung; Besucher waren kaum darunter, keine zwanzig. In der Wettervorhersage war Sturm angekündigt worden, und wer konnte, hatte seine Visite verschoben. Blieb nur zu hoffen, dass von den

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