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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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verbringen. Fast konnte man sagen, dass ihr Sohn dort aufgewachsen war: Solange er noch nicht zur Schule ging, richtete Emilia sich jedes Jahr schon im Mai dort mit ihm ein, in einem Häuschen hoch über dem Meer, an dieser schroffen und gleichzeitig sanften Küste, wie man sie nur in Ligurien finden konnte. Am Wochenende stieß auch Paolo von der Stadt aus zu ihnen, um dann, wenn alle Prüfungen abgeschlossen waren, bis zum Ende des Sommers ganz bei ihnen zu bleiben. Und dort in Framura war es auch, wo, inmitten ganz ähnlicher Düfte, wie sie jetzt diese Insel hier verströmte, der Besondere Gruß entstand.
    Wie alt war sein Sohn damals? Drei, höchstens vier Jahre. Und schon damals war er ein Kind von absoluter Schönheit – Paolo überkam ein diffuser Schmerz, als er jetzt daran zurückdachte. Große Augen, grün wie frisch gesprossene Blätter, die Haare so glatt und dun kel wie Bleistiftminen. Haare, bei denen man Lust bekam, sie mit den Fingern zu verwuscheln, um den Anblick zu genießen, wie sie sofort wieder von allein und kraftvoll in Form fielen.
    Das Haus, das sie jedes Jahr mieteten, besaß eine Pergola, bewachsen mit den violetten Blüten einer Clematis, sowie einen kleinen Garten, den bis zum Tor einer schmaler Weg durchzog. An jenem Tag war Paolo gerade aus der Stadt eingetroffen und hatte wie gewöhnlich fröhlich gehupt, um seine Ankunft anzukündigen. Wie immer kam ihm sein Sohn entgegen, aber nicht rennend wie gewohnt, sondern auf dem Dreirad, das er gerade geschenkt bekommen hatte. Paolo war in die Knie gegangen, um ihn aufzufangen, doch anders als sonst, warf sich der Kleine nicht in seine Arme. Er stieg von seinem nagelneuen Ge fährt, nahm, die Brust wie ein hoher Würdenträger herausgestreckt, daneben Aufstellung, legte die geschlossene Hand, aus der nur der Daumen heraus ragte, an die Schläfe und senkte dann die Faust zu einer eigenartigen, sehr amerikanischen Geste des Einverständ nisses. Erst dann lächelte er und zeigte dabei seine schneeweißen Zähnchen.
    Diese Bewegung – die Faust mit ausgestrecktem Daumen zunächst an die Schläfe zu führen, sie dann, wie um Okay zu sagen, sinken zu lassen – wurde von diesem Tag an der Besondere Gruß. Beide, Vater und Sohn, hüteten ihn stets wie etwas sehr Persönliches, das sie mit niemandem teilten, noch nicht einmal mit Emilia. Sie entboten diesen Gruß durch den Vorhang der Grundschule, als sein Sohn dort in einem Theaterstück Premiere feierte, oder auch, als er, elfjährig, als Einziger beim Schulsportfest mit elegantem Sprung, den Rücken voraus, die auf ein Meter zwanzig liegende Latte überwand. Den Besonderen Gruß widmete Paolo ihm ebenfalls, als er ihn, siebzehnjährig, mit seiner ersten Freundin im Arm zufällig auf der Straße traf. Und ohne dass diese es bemerkte, erwiderte sein Sohn die Geste. Auch als der Junge seinen Führerschein machte oder als er das Ergebnis seiner Abiturprüfung erfuhr, grüßten sie einander auf diese Weise, und außerdem jedes Jahr, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Sogar als er den Käfig der Angeklagten betrat, bedachte sein Sohn ihn mit dem Besonderem Gruß.
    Wie gut er aussah. Trotz der tiefen Ringe und der ungesunden Gesichtsfarbe durch die Isolationshaft, in der er über Wochen gehalten wurde, strahlten seine grünen Augen Zufriedenheit aus: Diese Stunden der Verhandlung gaben ihm Gelegenheit, mit seinen Genossen zusammen zu sein, vor allem auch mit seiner Freundin, ja, sie sogar zu berühren. Während man ihn in Handschellen hineinführte, suchte er den ganzen Saal mit Blicken ab. Dann erkannte er seinen Vater, und die Erleichterung war offensichtlich. Paolo sah es und war gleichzeitig so gerührt und erschüttert, dass er es fast nicht ertragen konnte. Jetzt lächelte sein Sohn ihm zu und enthüllte dabei die Lücken im Gebiss, wo ihm Fäuste bei seiner Festnahme Zähne ausge schla gen hatten. Aber es war immer noch das Lächeln, das Paolo schon von seinem kleinen Jungen kannte. Und dann geschah es, seine Augen blitzten auf, er hob die Hand und begrüßte seinen Vater.
    Es war ein eingespielter Reflex, der Paolo dazu veranlasste, augenblicklich ebenfalls die rechte Hand zur Schläfe zu führen. Er hatte bereits begonnen, sie mit abgespreiztem Daumen zur Faust zu ballen, als er bemerkte, dass eine Frau, die hinter dem Staatsanwalt saß, ihn

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