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Der Schwur

Der Schwur

Titel: Der Schwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Vollenbruch
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    Es war ein schöner, sonniger Tag, einer der letzten Tage, die sich noch nach Sommer anfühlten. Ein warmer Wind spielte in den Zweigen der Bäume im Forstwald und strich über Sonjas Wangen, als sie sich leicht nach vorne beugte und Micky antrieb. Der feurige Araberhengst schüttelte schnaubend den braunen Kopf, fiel aber auf einen leichten Schenkeldruck hin willig in Galopp.
    In Wirklichkeit hieß er natürlich nicht Micky. Er trug einen edlen, stolzen, unaussprechlichen arabischen Namen, den Sonja sich einfach nicht merken konnte – obwohl sie ihn sich selber ausgedacht hatte. Also musste er sich damit begnügen, Micky gerufen zu werden, und es war ihm wohl auch ziemlich egal. Für ihn war nur eins wichtig: mit Sonja auf dem Rücken durch den Wald zu galoppieren, fern von allen anderen Menschen.
    Quer über den Waldweg lag ein Baumstamm. Sonja spürte, wie Micky sich spannte. Sein Galopp wurde kraftvoller, zielstrebiger, er sammelte sich, stieß sich ab, sprang –
    »Und dazu kann uns bestimmt Sonja etwas sagen, oder? Sonja, aufwachen!«
    Sonja fuhr hoch. »W-was?«
    Die Klasse kicherte. Frau Scheuren, die Geschichtslehrerin, musterte Sonja und sagte: »Waterloo.«
    Sonja starrte sie wortlos an. Waterloo? Was sollte das sein? Was sollte sie damit anfangen? Ihr Kopf war noch voll von Sonne und Wald und dem Sprung, da war kein Platz fürGeschichtsunterricht. Es half ihr nichts, dass die anderen noch lauter kicherten, ihre beste Freundin Melanie sie anstieß und »Napoleon!« flüsterte. Sie fühlte sich wie benommen.
    Frau Scheuren schüttelte den Kopf. »Sonja, wolltest du nicht irgendwann im nächsten Jahr versetzt werden? Dann schlage ich vor, du hörst auf, Pferde in dein Heft zu zeichnen, und passt endlich einmal auf. Also, wann war die Schlacht von Waterloo, bei der Napoleon vernichtend geschlagen wurde?«
    Fieberhaft kramte Sonja in ihrem Gedächtnis.
    »Äh ... 1789?«
    Ein paar Streber begannen zu lachen. »1815!«, zischte Melanie, aber es war schon zu spät. Frau Scheuren wandte sich Nele zu, die immer alles wusste und sofort die richtige Antwort gab.
    Sonja sank in sich zusammen und schaute auf ihr Heft hinab. Ohne es zu merken, hatte sie Micky gezeichnet – wieder und wieder, als könnte sie ihn damit beschwören, herbeizugaloppieren und sie fortzutragen. Ganz gleich, wohin.
    Sie seufzte leise. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Micky jemals irgendwohin galoppieren würde. Was sie da in ihr Heft gekritzelt hatte, war ein struppiges Fass auf vier dicken Beinen. Nicht, weil sie nicht zeichnen konnte – das konnte sie sogar recht gut –, sondern weil es einfach der Wirklichkeit entsprach. Einen größeren Unterschied als den zwischen dem feurigen Araber ihrer Träume und dem alten, dicken Pony auf Frickels Waldhof konnte es überhaupt nicht geben. Falls Micky wirklich einmal galoppiert war – als Fohlen vielleicht –, hatte er es in den vierundzwanzig Jahren danach längst vergessen. Er war alt, müde, struppig, und wenn Sonja seine Hufe auskratzte, konntees passieren, dass er mit seinen langen gelben Zähnen nach ihr schnappte. Aber sie liebte ihn trotzdem.
    Sie griff nach dem Bleistift und zeichnete sich selbst auf den Rücken des fassartigen Ponys: eine dünne Figur mit braunen Haaren. Und schon war sie wieder im Wald. Micky schwebte über den Baumstamm, als wollte er nie wieder landen. Endlich landete er doch, weich und mühelos, und galoppierte weiter, immer weiter ...
    »Sonja!«
    Sie zuckte zusammen und ließ den Stift fallen.
    »Wie hieß die Insel, auf die Napoleon nach der Schlacht verbannt wurde?«
    Insel. Eine Insel. Hilfe, was für Inseln gab es denn überhaupt? Island? Shetland? Nein, natürlich nicht. Es musste doch noch mehr Inseln auf der Welt geben! Todesmutig wagte sie eine Antwort. »Gran Canaria.«
    Die Klasse brach in brüllendes Gelächter aus. Nur Melanie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
    »Da hätte er sich wahrscheinlich wohler gefühlt als auf St. Helena«, sagte Frau Scheuren trocken und wandte sich jemand anderem zu.
    »Manchmal bist du echt peinlich«, sagte Melanie unmittelbar nach dem Klingeln. »Gran Canaria!«
    Sonja biss sich auf die Lippe. Der Spott der Klasse war ihr egal, aber vor ihrer besten Freundin hatte sie sich eigentlich nicht blamieren wollen. »Ich kann mir St. Helena einfach nicht merken«, sagte sie in dem schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen.
    »Ach Quatsch, du hattest einfach überhaupt keine Ahnung.« Das klang nicht

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