Und Jimmy ging zum Regenbogen
Nora Hill, erfüllt von Mitleid, »das werde ich tun, Frau Steinfeld. Und was war die zweite Sache?«
»Die zweite Sache …«, Valerie holte Atem. »Herrn Flemmings Chauffeur hat sich doch mit Zyankali vergiftet …«
»Und?«
»Und Sie haben mir gesagt, daß Agenten und … und solche Leute alle diese Kapseln haben, daß das gar nicht ungewöhnlich ist.«
»Ja, sicherlich.«
»Dann hat Herr Flemming doch bestimmt auch Gift! Streiten Sie es nicht ab! Ganz gewiß hat er auch etwas!«
»Ich streite es ja gar nicht ab. Seien Sie nicht so laut!«
Valerie flüsterte: »Ich möchte ihn bitten,
herzlichst
bitten, daß er mir durch Sie zwei von seinen Kapseln schickt …«
»Sie wollen doch nicht – um Gottes willen, Frau Steinfeld!«
»Nein, nein, wo denken sie hin! Nur für den Notfall … für den äußersten Notfall …« Valeries flüsternde Stimme hetzte. »Es weiß doch niemand, was noch alles kommt! Und dann sind Sie oder Herr Flemming vielleicht nicht da, um zu helfen … und sie holen uns … den Heinz und mich … ich weiß nicht, wohin … ich meine, ich weiß es
genau!
Und Sie wissen es auch! Ich … ich will dann nicht noch gequält werden … und ich will nicht, daß sie den Heinz quälen … Er ist doch noch ein Kind …« Valerie griff wieder nach Noras Händen. »Ich verspreche Ihnen, ich werde die Kapseln nur benützen, wenn es
absolut
notwendig ist! Wird er mir zwei geben, der Herr Flemming? Glauben Sie das?«
»Ich glaube schon«, sagte Nora Hill erschüttert.
»Das ist ein guter Mensch«, murmelte Valerie. »Wahrhaftig, ein guter Mensch …«
39
Drei rostrote Eichkätzchen mit dunklen Schwänzen. Zwei graubraune. Und zwei schwarze. Sie saßen auf einem freigeschaufelten Weg des Türkenschanzparks, am Rande eines der kleinen, zugefrorenen Seen, und sie knabberten Haselnüsse, die sie zwischen ihren winzigen Pfoten hielten. Aufrecht saßen sie da, die dichtbehaarten Schwänze elegant aufgestellt, ganz zahm, ganz nahe vor Irene und Manuel, die sie fütterten. Sie hatten die Nüsse in kleinen Säckchen aus einem der Automaten im Park gezogen. Es war Samstag, der 25. Januar, gegen halb drei Uhr nachmittag.
Manuel hatte den Vormittag bei dem Hofrat Groll verbracht und ihm von seinem Gespräch mit Nora Hill in der Nacht zuvor erzählt. Sie war nicht in der Lage gewesen zu sagen, wie der Prozeß mit dem vorgeblichen zweiten, verstorbenen Kindsvater weitergegangen war, und hatte ihre Erzählungen deshalb hier wieder einmal unterbrechen müssen …
»Aber der Anwalt weiß sicher Bescheid, lieber Freund.«
»Ich bin mit ihm verabredet, morgen nachmittag.«
»Sehen Sie. Und wenn Sie Bescheid wissen, kommen Sie wieder zu mir …« So war das Gespräch mit Nora beendet worden.
»Eines noch«, hatte Manuel dann später zu Groll gesagt.
»Ja?«
»Die Giftkapseln … Frau Hill hat es mir erzählt: Flemming gab sie ihr, als sie ihn darum bat, und sie gab sie Frau Steinfeld. Die bewahrte sie auf. Sechsundzwanzig Jahre lang bewahrte sie die Zyankalikapseln auf! Bis in dieses Jahr, in diesen Monat, bis zum neunten Januar … Ja, Herr Hofrat, das Gift, mit dem Frau Steinfeld meinen Vater und sich selber tötete, stammte von Flemming.«
»Also wäre auch das endlich geklärt«, meinte der Hofrat, am Samstagvormittag, in seinem Büro. Mit einem Finger umfuhr der schwere Mann das silbrig-grüne Ginkgo-Blatt, das unter Glas auf seinem Schreibtisch lag. Die Fingerkuppe glitt vom Stiel aufwärts den ganzen Blattumriß entlang und wieder zum Stiel zurück.
»Aber warum hat sich Frau Steinfeld all die Jahre hindurch geweigert, das Gift wegzuwerfen? Warum hob sie es auf?
Für meinen Vater?
Herr Hofrat!«
»Das wissen wir nicht«, sagte Groll.
»Das wissen wir
noch
nicht! Ich finde es heraus! Ich finde alles heraus, wie Sie sehen, Herr Hofrat! Auch das Letzte …«
»Sicherlich«, hatte Groll, das Blatt umfahrend, geantwortet.
Die Möven-Apotheke schloß am frühen Samstagnachmittag. Manuel hatte Irene zu einem Mittagessen im ›Ritz‹ abgeholt – schon um zwölf Uhr –, danach waren sie hier heraus, zu dem großen Park gefahren und hatten den Wagen in der Gregor-Mendel-Straße stehen lassen.
Sie machten einen weiten Spaziergang. Es war sehr kalt an diesem Tag, windstill, und es schneite nicht. Irene trug ihren Seehundmantel und die Seehundstiefel, Manuel seinen Kamelhaarmantel und die Pelzmütze. Er hatte auch Irene alles erzählt, beim Essen, während der Fahrten. Im Park gingen
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