Und keiner wird dich kennen
drückt die Kippe aus, schnappt sich ihre dicke, wattierte Jacke und stopft Handy, eine Packung Taschentücher, Hustenbonbons, den Hausschlüssel und allen möglichen anderen Kram hinein, der auf dem Sideboard herumliegt.
In Maja schwappen die Erinnerungen hoch. Jeden Tag lungert er vor der Tür herum . Es fühlt sich an, als kleben seine Blicke auf meiner Haut. Mama hat gesagt, ich soll ihn nicht ansehen, soll einfach so tun, als wäre er nicht da, und ins Haus gehen. Dort sei ich in Sicherheit.
Meine Hände zittern, als sie den Schlüssel im Schloss drehen. »Gib mir den Schlüssel«, sagt der Typ. »Los. Her damit.« Ich will ins Haus rennen, aber er stellt den Fuß in die Tür, kommt mir nach, entreißt mir den Schlüssel. Noch am selben Tag lässt Mama alle Schlösser auswechseln, aber was hilft das schon?
Maja blickt auf die Uhr, aber die Ziffern tanzen vor ihren Augen. Es dauert eine Weile, bis sie einen Sinn ergeben. Fast vier Uhr. Vier. Lorenzo. Gleich sind sie verabredet, wo noch mal? An der Sporthalle. Ja, genau. Er hat ja jetzt Basketballtraining.
Auf dem Weg dorthin nimmt sie zwei Autos die Vorfahrt und übersieht eine rote Ampel. Mit wackeligen Knien stellt sie ihr Fahrrad neben der Sporthalle ab, geht hinein und setzt sich auf die Zuschauerbank am Rand. Das Training läuft noch und Majas Augen suchen nach Lorenzo, finden ihn. Sein verstrubbelter rotblonder Haarschopf leuchtet förmlich aus dem Pulk der Spieler hervor. Er dribbelt gerade um einen Gegner herum, jede Bewegung rasch und kraftvoll. Schon hat er sich zum Korb vorgearbeitet und wirft. Der Ball prallt mit einem harten Tock am Rand ab und dotzt davon. Anscheinend hat auch Lorenzo heute einen schlechten Tag. Sonst trifft er meistens.
Fünf Minuten später ist das Spiel beendet, und einige der jüngeren Spieler scharen sich um Lorenzo, hoffen auf ein paar Sekunden seiner Aufmerksamkeit, einen Tipp, einen anerkennenden Blick. Noch während Lorenzo sich mit ihnen unterhält, bewegt er sich in Majas Richtung, er hat sie längst gesehen. Verschwitzt und strahlend kommt er auf sie zu und Majas Herz zerfließt.
»He, willst du das wirklich?«, ruft Lorenzo lachend, als sie sich in seine Arme wirft. »Ich bin klatschnass ...«
»Ist mir egal«, sagt Maja und hört, dass ihre Stimme erstickt klingt. Auch Lorenzo hört es und wird ernst. Sie fühlt seine warme Hand an ihrer Wange, seinen Kuss auf ihren Lippen. »Was ist passiert?«
Doch Maja bleibt stumm, sie bringt die Worte nicht über ihre Lippen. Besser, sie behält es für sich. Es ist beschissen gelaufen in ihrer letzten Schule. Als die Leute dort Wind von der ganzen Sache bekommen haben, hatten sie ihre Sensation, begierig haben sie immer wieder nachgefragt. Wow, das ist ja wie im Krimi, und was genau hat der Typ dann gemacht? Was, die Bullen waren schon wieder bei euch, was ist denn passiert? Aber nach einer Weile gab es andere Dinge, die interessanter waren, und irgendwann hatte Maja das Gefühl, dass es einfach nur nervte, wenn sie schon wieder davon erzählte. Wie sich das wirklich anfühlte, wie schlimm es war, konnten die anderen sowieso nicht verstehen.
Sie will nicht, dass es ihr mit Lorenzo auch so geht. Ihre Zeit mit ihm soll absolut Robert-Barsch-frei sein. Nicht verseucht von all diesem Mist.
Vorsichtig lässt Lorenzo sie los und sieht sie mit einem forschenden Blick an. »Ich dusche ganz schnell, dann bin ich wieder bei dir, ja?«, verspricht er, und Maja nickt mechanisch.
Lorenzo hält Wort, schon nach wenigen Minuten ist er wieder da und sieht in seinem schwarzen Kapuzen-Sweatshirt und den Jeans verwegen und unglaublich gut aus.
Minutenlang stehen sie einfach nur auf dem Hof, und Lorenzo hält sie ganz fest, während die anderen Leute an ihnen vorbeilaufen. Maja drückt ihr Gesicht in seine Halsbeuge und atmet seinen Geruch nach frisch gebackenem Pizzateig ein, der wie so oft in seinen Klamotten hängt.
»Irgendwas mit deiner Familie? Zoff gehabt?«, versucht Lorenzo es noch einmal, doch als Maja schweigend den Kopf schüttelt, gibt er vorerst auf.
Sie fahren zu ihm nach Hause und Maja schleppt sich mit Mühe die Treppenstufen des Altbaus hoch, sämtliche Energie scheint sie verlassen zu haben. Seine Eltern sind gerade nicht da und das ist vielleicht besser so. Bei Lorenzos Vater, der aus einem kleinen Ort in Norditalien stammt, hat Maja manchmal das Gefühl, er wünsche sich ein anderes Mädchen für Lorenzo. Eins, das nicht besser in Physik ist als sein Sohn, ein
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