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Und wir scheitern immer schöner

Titel: Und wir scheitern immer schöner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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überall. Rosenrot schimmernd und Leben reflektierend. Die letzten Zuckungen einer Existenz. Unfreiwilliges Extremsterben unsererseits. Sie und ich. Es ist dieses Gefühl von LEBE SCHNELL – STIRB JUNG – HABE EINE GUT AUSSEHENDE LEICHE.
     
    Kurt Cobain – Jim Morrison – Che Guevara – ich.
     
    In ihrem Autoradio läuft Phillip Boa & The Voodooclub: ‹The girl who wants to die every day.› Ich erkenne dieses ironiegetränkte Lied: «…can I introduce myself, I'm the girl who wants to die every day, and I love it, no grant of rights, in dreams I lie, in dreams I lie, in selfishness I cry, in carisma I die, let me introduce myself, me so nice and lovely, … I'm the girl who wants to die every day …» Sie hat einen guten Musikgeschmack.
      
    Da ist kein Schmerz mehr. Blutiges Ableben. Fleischreste, Menschensubstanzverteilungsmaßnahme. Gut, nicht allein zu sterben. Das Licht wird langsam runtergedimmt. Slowly. Dreißig Sekunden Sterbenszeit. Vom Aufprall bis jetzt. Mein Kopf ist völlig zerstört. Mein Körper eine einzige klaffende Wunde, aus dem mit jedem flachen Atemzug stoßweise Blut entweicht. Es wird alles leicht und melodiös um mich. Die Musik. Ist immer noch da: ‹I'm the girl who wants to die every day.›  
     
    Die Frau, auf der ich liege und mit der ich heute sterbe, sie ist schon gegangen. Ich hinterher. Zur Sonne. Bruchzeit zwischen Ein- und Ausatmen. Vergänglichkeit hat es eilig und das Leben meint es ernst. Es stiehlt sich aus meinem Herzschlag. Raus.
     
    Perfekter Augenblick. Unbedingt merken. Aber niemandem davon erzählen. Niemals ...
     
    Aus.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Vier Finger Vergewaltigung
     
     
    Zur Weihnachtszeit macht unsere Scheißstadt wieder einen auf Prostituierte. Das hat sie eigentlich gar nicht nötig, die billige Schlampe von Stadt. Betonhure, die alte.
     
    Aber sie tut's jedes Jahr wieder. Kleidet sich in bunte Lichter. Macht betäubenden Lärm mit trägen Melodien. Nennt sich vorweihnachtlich und ist konsumierbar. Die begehbare Schlampe. Ihr Herz ist aus Beton. Ihre Genitalien triefen vor Kitsch. Kitzlerkitsch, der kotzend macht, wenn man denken kann. Leider kann ich denken.
     
    Der ganze Mist hier stinkt dann nach Wurst, Glühwein und dicken Leuten. Die behängen sich mit Plastiktüten und kaufen die ganze Scheiße, die ihnen das Werbefernsehen aufgedrängt hat. Das packen sie in ihre Tüten und laufen dann Wurst kauend rum, schreien ihre Kinder an und sind ansonsten geblendet vom Lichterwahn. Dessen gleißende Geilheit verheißt nichts Gutes. Vom Strom, der so durchgeht, könnte man wahrscheinlich ganz Südafrika mitversorgen. Oder abfackeln. Macht aber keiner, ist ja Weihnachten. Und da ist jeder Gutmensch eben Gutmensch und denkt nix Böses beim Leben.
     
    Die Kleinmetropolenschlampe, in der ich wohne, hat aber auch so genannte Naherholungsgebiete. Wälder und Wiesen, die vom Weihnachtsglitzeramok noch verschont geblieben sind. Da sind keine Häuser, da ist dann nur grünes, unaufgeräumtes Zeug, das von einigen Wanderwegen durchkreuzt wird. Da bin ich immer gern.
     
    Momentan steht mir mein Fluchtverhalten sehr gut. Denn da kommt was zusammen. Die Summe der Leid bringenden Einzelteile. Der eben schon erwähnte Vorweihnachtsfaschismus und der Tod meiner Freundin Julia. Die hatte einen Autounfall, weil irgend so 'n Assi im Sportwagen einfach überholen musste. Dann gab es eine frontale Zusammenkunft und zwei Tote, eine davon die Julia. Die war gerade einundzwanzig. Damit muss ich erst mal klarkommen. Die Vergänglichkeit hatte es sehr eilig. Mit einem unachtsamen Moment in einem Leben gingen die Lichter aus. Ihr Schädel war komplett zerstört vom Metall des Unfallgrauens. Vorn und hinten hatte sie Riesenlöcher im Kopf. Als sie gefunden wurde, lief noch ihr Autoradio, aber ihren letzten Atemzug auf diesem Planeten hatte sie schon hinter sich.
     
    Beerdigungserzählungen ihrer im Heulkrampf befindlichen Eltern zufolge und die Lokalpresse setzten mir dieses Bild zusammen. Ich war auch am Unfallort. Julia ist tot. Eine Kerze für sie. Unsere Gemeinsamkeiten beschränkten sich aber bei genauerem Hindenken auf die Oberflächlichkeit der Tiefen- und Pseudophilosophie. Ein adäquater Quatschmensch. Wir saßen meist herum, rauchten, tranken und sprachen dem Leben die Lebbarkeit ab. Ein Mensch mit Mund zum Reden und Gehirn zum Verstehen. Ihr Verlust ist tragisch. Die salzige Feuchtigkeit bildet sich erneut in meinen Augen.

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