Unser Mann in London
ein Bild von meinem möglichen Leben als Londoner machen könnte. Auch meinen Bruder hatten wir mitgebracht. Wir sahen in der Einladung zuerst eher die Gelegenheit zu einem Städteurlaub für den Weihnachtseinkauf, so surreal kam uns die Situation vor.
Die Idee, dass ich tatsächlich einmal hier dazugehören könnte, kam mir zum ersten Mal, als ich das Spiel sah. Arsenals B-Jugend maß sich mit Charlton Athletic. Selbst die feuchte Luft und der Nieselregen faszinierten mich. Sie schienen so perfekt zu diesem Fußballmatch auf Charltons Trainingsgelände in Südostlondon zu passen. Der Rasen war saftig, und die Spieler setzten ihre Körper vehement ein. Ihre nassen Haare verstärkten den Eindruck eines großen Kampfes. Die Jungen grätschten nach den schweren Mitre-Bällen, und die Zuschauer schrien mit derselben Leidenschaft. Der Leiter von Arsenals Jugendabteilung Liam Brady stand in grünen Gummistiefeln am Rand. Ein Seil war als Abgrenzung für die Zuschauer um den Rasenplatz gespannt. Ich hätte es nicht auf den Punkt bringen können, ich fühlte es nur: In diesem Spiel war auf wunderbare Art Leben; sogar in diesem banalen Seil steckte Tradition.
In Schalke trainierten wir auf einem Aschenplatz fern der Profimannschaft, wir trugen unsere eigenen Trainingsklamotten, ich mit Vorliebe mein irisches Nationaltrikot mit Andy Townsend auf dem Rücken. In London empfing meine Eltern und mich Arsène Wenger, der berühmte Trainer der Profielf, und erklärte uns, wie mein Alltag bei Arsenal aussehen würde. Ich würde bei einer Gastfamilie wohnen, täglich trainieren und nebenbei Privatunterricht erhalten, um das englische Abitur zu machen. Ach, und hatte ich eigentlich Fußballschuhe dabei? Nein? Sie gaben mir ein Paar des schwedischen Nationalspielers Freddie Ljungberg. Dann trainierte ich bei den Profis mit.
Eine Sache hatte ich noch zu erledigen, ehe ich nach Deutschland zurückkehrte. Ich hatte meine Englischhausaufgaben mitgebracht, in der vagen Hoffnung, ich könnte sie leichter lösen, nur weil ich in England war. In der zehnten Klasse lasen wir gerade einen Ausschnitt aus
My Fair Lady
, und ich stolperte über einige Vokabeln. Eine Frage hätte ich noch, sagte ich also zu Arsenals Talentspäher, der mir das Stadion zeigen wollte: «Was heißt
both
?»
Arsenals Chefscout Steve Rowley schaut genau hin, ob meine Hand bei der Vertragsunterschrift für Arsenal zittert.
Der Chefscout beantwortete mir auch diese Frage, ohne das Gesicht zu verziehen. Damals wusste ich noch nicht, dass Engländer sich nichts anmerken lassen, wenn sie ihr Gegenüber eigenartig finden.
Ich brauchte vier Monate und eine zertrümmerte Glühbirne, um mich zu entscheiden. Steve Rowley, Arsenals Chefscout und Arsène Wengers wichtigster Mitarbeiter, kam nach Bürbach, damit ich den Vertrag unterschrieb. Ich war nicht glücklich. Ich war nur erleichtert, dass die Frage «Was machst du?» endlich aufhörte. Mein Vater bereitete Steve ein Steak mit grüner Pfeffersoße und Kartoffeln, meine Oma Gerda packte ihn an der Hand, fuchtelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum und hielt ihm auf Deutsch eine Standpauke: Wehe, wenn er nicht auf den Jungen aufpasse. Ohne ein Wort zu verstehen, schien Steve Rowley genau zu kapieren, was meine Oma wollte. Er atmete auf einmal so schwer. Ich wurde nervös. Ich dachte: Was, wenn die Jungen bei Arsenal alle viel besser sind als du?
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Zwei Und nun zum Wetter
Für den Bus gab es in Barnet keine Haltestelle. Man stellte sich an die Straße und bat den Fahrer mit einem Handzeichen anzuhalten. Majestätische Bäume säumten die Bürgersteige, die breiten Straßen der Siedlung waren bei Fröschen und Fahrschulen sehr beliebt. Die Frösche zog es zum Weiher am Greenhill Park. Die Fahrlehrer schätzten die totale Abwesenheit von Verkehr. London, die Stadt, zu der Barnet gehört, schien eine Welt weit weg.
Anders als Paris, Rom oder Berlin ist London über die Jahrhunderte nicht nach außen gewuchert, sondern es wuchs nach innen: Die Dörfer um die Stadt wurden größer und breiter, bis sie verschmolzen. Deshalb gibt es in Londons Außenbezirken keine Trabantenstädte, sondern ehemalige Orte wie Barnet am Ende der Northern Line, die immer noch das Flair einer abgelegenen Kleinstadt versprühen.
Man musste schon wie ich aus Bürbach kommen, um Barnet groß und beeindruckend zu finden. In Bürbach standen neben den üblichen Einfamilienhäusern ein paar drei- oder vierstöckige
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