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0816 - Der Todesbaum

0816 - Der Todesbaum

Titel: 0816 - Der Todesbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylke Brandt
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Ihm stockte der Herzschlag, und mit einem Mal war ihm trotz der milden Nacht furchtbar kalt. Er hätte kein Journalist mit einem Hang zu Okkultismus sein müssen, um zu erkennen, was hier geschah - und in welcher Situation er sich befand.
    Das hier war eine religiöse Zeremonie, eine Opferung. Und Jules Leroc zweifelte keinen Moment daran, dass er die ehrenvolle, traurige und tödliche Rolle des Opfers spielen sollte!
    »Hey! Was soll das?«, rief er laut und zerrte an seinen Fesseln. Er erkannte jetzt, dass er an eine Trauerweide gebunden war. Die dünnen Zweige hingen wie ein Schleier rundherum bis fast zum Boden herunter, wisperten und bewegten sich im Wind. »Bindet mich sofort los!«
    Niemand antwortete.
    Die Gestalten gingen einfach stumm weiter, bis sich der Kreis geschlossen hatte. Zerfetzte Wolken trieben über die silberne Mondscheibe, die den Hügel in kaltes Licht tauchte. Es war unwirklich, wie die Kultisten schweigend um den Baum standen. Leroc schluckte schwer. Das waren keine kindischen Spinner. Sie sahen so aus, als wüssten sie ganz genau, was sie hier taten.
    Ohne ein Wort hoben die Leute in den Roben ihre Hände, berührten sich, und ein helles grünes Leuchten flammte zwischen ihren Fingern auf. Es vereinte sich zu einem Ring aus Licht. In dem kranken Schein jagten Lerocs Blicke über die ausdruckslosen Gesichter der Kultisten vor ihm. Dann blieben sie an dem einer schönen jungen Frau mit wunderbaren braunen Haaren hängen.
    Merille Sandson - ja, so hieß sie.
    Und langsam schälte sich aus Lerocs umnebeltem Geist die erste Erinnerung…
    ***
    Er hatte Merille Sandson in Paris in seiner Lieblingsbibilothek getroffen. Ein Mädchen mit herrlichen Haaren, einem traumhaften Körper und einem wirklich schönen Gesicht. Sie war über einen Stapel Bücher mit okkulten Themen gebeugt gewesen, was ihn gleich fasziniert hatte; immerhin war das sein Metier. Jules Leroc war Journalist, aber er schrieb nicht über gewöhnliche Dinge. Sein Interesse galt der Welt der Geister und Dämonen, der unerklärlichen Phänomene.
    Gerade an diesem Morgen hatte er wieder ein altes Antiquariat auf der Suche nach neuen Geheimnissen durchstöbert und dabei ein seltenes Buch gefunden. Er konnte es selber nicht gebrauchen, aber ein Freund aus einem kleinen Dorf an der südlichen Loire hatte ihm versprochen, es für einen guten Preis zu kaufen. Er wollte sich am nächsten Tag mit ihm treffen und den Handel perfekt machen. In Gedanken war Jules Leroc schon im Reisebüro und buchte von dem Geld einen Flug in die Karibik. Er konnte Urlaub gebrauchen.
    Und dann saß da dieses Mädchen in der Bibliothek. Jules Leroc war ein Jäger, er konnte an einer Schönheit wie dieser nicht Vorbeigehen. Unauffällig beugte er sich vor und sah, dass die Frau allerlei Werke über Naturgeister las, die Magie der Kräuter und Pflanzen und solch hübsches harmloses Zeug. Jules Leroc, selber nicht unvertraut mit weitaus düstereren Themen, hatte gelächelt.
    »Ich empfehle Ihnen den Almanach der Naturgeister von Arrowsmith, wenn Sie sich einen Überblick verschaffen möchten«, hatte er begonnen.
    »Ist das so?«, kam die scharfe Antwort. Dann drehte sich die Frau zu ihm um, sah ihn an, und für einen Moment fiel Jules Leroc keine passende Erwiderung ein.
    Die Augen der Frau waren unglaublich. Er hatte noch nie so ein Grün gesehen. Es schien aus sich selbst heraus zu leuchten, in einem intensiven, lebendigen Glanz. Fast hatte er den Eindruck, als würden sich Grün und Gold in diesen Augen bewegen wie Sonnenlicht auf den Blättern eines Baumes. Die Frau musterte ihn eine Weile unfreundlich, dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen. Der harsche Ausdruck verschwand aus ihrem schönen Gesicht, und sie schaffte ein Lächeln, das jede Abendplanung, die Jules bis dahin gehabt haben mochte, zunichte machte.
    »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht unhöflich sein«, bat sie.
    »Oh, kein Problem. Wenn ich so aussehen würde wie Sie und mich irgendein fremder-Typ anspräche, dann würde ich auch erst einmal so reagieren. Wahrscheinlich werden Sie am Tag bestimmt ein Dutzend mal nach dem Weg oder nach der Zeit gefragt.«
    Sie lachte. So kamen sie ins Gespräch.
    ***
    Jules Leroc schüttelte den Kopf und stöhnte, als die Erinnerung zurückkam.
    Das war es also.
    Er hatte sich an dieses hübsche, unschuldige Mädchen vom Land herangemacht und ihr versprochen, an ihrem letzten Abend in Paris mit ihr auszugehen. Und sie war darauf eingegangen.
    Leroc

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