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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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dem Herrscher vorgeführt. Wie du dich bei ihm zu verhalten hast, werde ich dir erklären. Aber vor allem merk dir: Du bist Scharlach.«
    Der Kerl warf den Kopf hoch und betrachtete den Karawanenführer böse und misstrauisch. »Ich bin ja auch Scharlach!«
    Chaïlsa schaute ihm in die Augen. »Sehr gut«, wiederholte er.

40
    Vierzig Tage Unsterblichkeit
    E in paarmal war es ihm so vorgekommen, als sie den Kamm der nächsten Düne erstiegen hatten, dass sich am wabernden Horizont ein blasser graugrüner Streifen abzeichnete – die aus den Sanden ragenden Dickichte krummer, spärlich mit schmalen Blättern belaubter Stämme. Wenngleich ein lockerer, so doch immerhin ein Schatten, und wenn sie Glück hatten, auch Wasser … ein Brunnen … Doch der Streifen verschwand, nachdem er kurze Zeit gelockt hatte. Entweder bildete er es sich vor Hitze ein, oder es war ein Trugbild. Aliyat und Ar-Scharlachi trotteten schweigend dahin, traten den Sand und sogen mit Mühe die glutheiße Luft durch den Stoff der Schleier ein. Sie wussten, dass die Sonne sie beide ja doch noch vor dem Abend töten würde.
    Ar-Scharlachi war schon zweimal gefallen und bedauerte nur eins: dass er partout nicht das Bewusstsein verlieren konnte. Und beide Male hatte ihn Aliyat mit Fußtritten in die Rippen auf die Beine gebracht. Dann begannen die Halluzinationen. Ihm entgegen kamen, im Sand stecken bleibend, die Toten: der nacktfressige Treiber, der während der Meuterei erschlagen worden war, der blaugesichtige, krummrückige Riybra, der junge Räuber mit der durchgeschnittenen Kehle, der schwere, lahme Ar-Maura, Kahirab mit dem winzigen Fleck getrockneten Blutes auf der Brust … Tiangi, Gorcha, Lerka, der es fertiggebracht hatte, im Meer zu ertrinken … Krampfhaft zuckte, als wolle er aufstehen, der zu Kohle verbrannte, namenlos gebliebene Schiffsläufer. Sie alle blieben stehen, ließen ihn herankommen und ein kleines Stück vorbeigehen, bemüht, ihm nicht den Rücken zuzukehren, und trotteten ihm dann nach.
    »Macht nichts …«, murmelte er, oder vielleicht hielt er Gedankenfetzen für sein eigenes Gemurmel. »Wir schaffen es … wir kommen irgendwie hin …«
    Zu Fuß zum Meer … und dort auf die Nacht warten – und auf dem glänzenden Mondweg … zu den Ahnen … zur Mutter Kamelstute …
    Dann spürte er ein Brennen durch den Stoff des Kittels hindurch und begriff, dass er wohl schon lange auf dem flachen Sandhang zwei Schritt von einem Dünenkamm entfernt lag. Aliyat war nirgends zu sehen. Sie musste wohl zurückgeblieben oder noch früher gestürzt sein … Er versuchte den Kopf zu wenden, und da senkte sich die schwere Ferse der wahnsinnigen Sonne herab und trat ihn in den Sand. Endlich verließ das Bewusstsein Ar-Scharlachi.
    Doch nicht für lange. Bald schon fühlte er, dass man ihn auf den Rücken drehte, und zwang sich, die Augen zu öffnen. Über ihn beugten sich zwei kleine, faustgroße Gesichter, runzlig und schwarz wie Erdöl. Wie verkohltes Holz.
    »Nganga … ondongo …«, krächzte er, kaum die zusammengeklebten Lippen öffnend, und wurde wieder ohnmächtig.
    Der schwarze Zauberer Mbanga kurierte sie mit irgendwelchen Kräutern, wobei er seufzend und schluchzend Beschwörungen sprach. Doch das wichtigste Heilmittel war Wasser, kühl und frisch. Irgendwo im Dickicht musste wohl tatsächlich ein Brunnen verborgen sein, den nur die Eingeborenen kannten.
    Am zweiten Tag, als sich Ar-Scharlachi gestärkt genug fühlte, dass er aufzustehen wagte, hieß Mbanga ihn nachts in den Kreis der Götzen kommen. Aliyat erhielt keine solche Einladung. Anscheinend hatten Frauen in dem Heiligtum nichts zu suchen.
    Wieder brannte ein kleines Lagerfeuer, flackerte im schwachen Nachtwind, rührte mit Lichtflecken an die grimmigen geschnitzten Visagen mit den aufgestülpten Lippen, die mit altem Blut beschmiert waren, und wie beim vorigen Mal schwieg der schwarze Zauberer Mbanga lange Zeit, ehe er das erste Wort einhauchte. Ar-Scharlachi hatte geduldig auf diesen Augenblick gewartet und zuckte dennoch zusammen, als es so weit war.
    »Du hast es den anderen gesagt?«, fragte der Zauberer gleichmütig.
    Auch Ar-Scharlachi antwortete nicht gleich. Streng genommen hatte er die Bitte Mbangas doch nicht erfüllt. Obwohl …
    »Ich habe es anders gemacht«, sagte er schließlich langsam. »Die großen weißen Leute habe ich dorthin geführt, wo sich der Stahl verneigt, und sie haben alles selbst gesehen.«
    »Du warst dort?«
    »Ja. Ich war dort und

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