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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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habe jene getroffen, vor denen er sich verneigt. Doch es gibt sie nicht mehr. Du hast gesagt, dass sie uns überall vertreiben werden, aber siehst du: Wir sind noch da, und sie sind fort …«
    Der Zauberer schien zu lächeln. »Nein«, seufzte die unheim liche nächtliche Stimme. »Sie sind nicht fort. Du glaubst, alles ist zu Ende. Aber es beginnt alles erst. Sie werden nicht fortgehen.«
    »Dort ist alles verbrannt«, sagte Ar-Scharlachi niedergedrückt. »Ihre Feinde sind gekommen und haben eiserne Vögel auf sie losgelassen. Ich habe gesehen, wie es geschah. Selbst wenn der Stahl sich wieder zu verneigen beginnt, dann nicht vor ihnen, sondern vor ihren Feinden.«
    »Für euch ist das ein und dasselbe«, raschelte der Zauberer. »Vor wem er sich auch verneigt, euch wird man überall vertreiben. Ihr wollt euch noch gegenseitig töten und eure Schiffe verbrennen. Aber bald werdet ihr niemanden mehr zu töten und nichts zu verbrennen haben.«
    »Du willst sagen, dass bald ein Krieg beginnt?«
    »Er hat schon begonnen. Aber nicht euer Krieg. Jetzt werden sie, nicht ihr in der Wüste Krieg führen.«
    Ar-Scharlachi dachte an die schmutzige lodernde Flamme, die die ganze Breite des Horizonts einnahm, und ihn schauderte. Er stellte sich wer weiß warum vor, wie genau so eine Flamme in den Vorbergen von Harwa loderte, und verscheuchte eilends diese absurde und bedrohliche Vision. Erdöl gab es in Harwa nicht, also sollte es auch nichts geben, womit man die Stadt verbrennen könnte …
    »Und ihr?«, fragte er und war selbst überrascht. »Was passiert mit euch?«
    Der Zauberer versank in Schweigen.
    »Mit uns ist schon alles passiert«, antwortete er kaum hörbar und, wie Ar-Scharlachi schien, voll Trauer. »Wir haben nichts, was man uns wegnehmen könnte. Und sie werden uns nichts wegnehmen.«
    Plötzlich begann der Nachthimmel gedämpft zu brüllen, und Ar-Scharlachi sprang auf. Mbanga blieb sitzen, nach wie vor gleichgültig und unbeweglich. Einem endlosen fernen Donnergrollen ähnlich, kroch das seltsame Dröhnen am Rande des Nachthimmels entlang. Es war nicht laut, doch Ar-Scharlachi hätte es mit nichts verwechseln können: Irgendwo im Süden flogen über die erbebenden Sande die schrecklichen Eisenvögel, die breiten, flachen Lanzenspitzen ähnelten. Dann verlor sich das Dröhnen in der Nacht, Ar-Scharlachi aber stand noch immer da und lauschte.
    »Sie …«, brachte er schließlich tonlos hervor.
    Der Zauberer antwortete nicht. Der Zauberer war ruhig.
    »Wirst du uns gehen lassen, Mbanga?«, fragte Ar-Scharlachi mit einem bittenden Blick auf ihn und setzte sich wieder. »Wir werden gehen und den großen weißen Leuten erzählen, was sie erwartet …«
    Der Zauberer schwieg. Bedrohlich fletschten ringsum die geschnitzten Götzen die Zähne.
    »Euch erwartet nichts mehr«, erwiderte er kaum hörbar. »Und es ist zu spät, es ihnen zu erzählen. Bald werden sie selbst alles erfahren.«
    Ar-Scharlachi betrachtete angstvoll das kleine, aus Narben zusammengesetzte schwarze, reglose Gesicht. »Und was wirst du mit uns machen?«
    »Ich werde euch gehen lassen«, raschelte der Zauberer nach einer Weile. »Ich gebe euch einen glänzenden Schild, und ihr könnt einem Schiff ein Zeichen geben.«
    »Hierher kommen Schiffe?«
    »Nein. Aber manchmal sehen wir einen Staub. Alle wandern nach Westen. Nach Osten fährt niemand.«
    »Also ist noch etwas geschehen …«, vermutete Ar-Scharlachi mit bebender Stimme.
    Der Zauberer schien seine letzten Worte nicht gehört zu haben. »Ich gebe dir einen Schild«, sagte er. »Ich gebe dir einen glänzenden Schild, und du kannst ein Zeichen geben.«
    Der Zeremonialschild, der sich im Schatz des Zauberers fand, war ein rechteckiger, fast mannshoher Metallspiegel. Solche Schilde waren noch vor der Abspaltung Harwas von Kimir in Gebrauch gewesen, ganz zu Beginn der Regierungszeit Oreyas des Dritten. In dem Schatz fanden sich auch Dosen mit Politur, Bürsten, Lappen und allem, was ein Spiegelkämpfer braucht. Ar-Scharlachi verwandte einen Tag darauf, den Schild in Ordnung zu bringen, ihn klar und strahlend zu machen.
    Doch es vergingen etliche Tage, und kein Staub war am Horizont zu sehen. Und fast jede Nacht dröhnten irgendwo in der Ferne die eisernen Vögel, dass einen Angst und Wehmut ergriffen, flogen in Schwärmen bald von West nach Ost, bald von Ost nach West. Ganz wie unsere Karawanen, dachte Ar-Scharlachi grimmig, wenn er dem abflauenden Donner lauschte und Aliyat, die sich

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