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Unter Menschen

Unter Menschen

Titel: Unter Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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enttäuschen. Und er entwickelt infantile Verhaltensweisen. Fehlt ihm was?“
    „Ja. Die Vernunft.“ Jerry nahm einen Schluck Kaffee. „Ich fürchte, er wollte für dich ein Menschenkind sein, ein vollwertiger Sohn. Er hat sich wie ein Mensch verhalten, ist nicht ins Wasser gegangen, hat einfach immer weiter gemacht, bis er umgefallen ist. Ist nicht schlimm, er erholt sich schnell wieder. Aber ich würde das ernst nehmen. Du musst dringend mit ihm reden.“
    Als die beiden Männer zurück in die Wäschekammer kamen, lag Sam mit dem Kopf auf dem Beckenrand und hatte die Augen geschlossen. Er sah auf, als er die beiden hörte.
    George setzte sich neben das Becken und Jerry nahm auf einem kleinen Schemel Platz.
    „Sam“, sagte George sanft. „Ich weiß, was du vorhattest. Und ich möchte nicht, dass du das noch einmal tust.“
    Sam nickte und kämpfte mit den Tränen.
    „Ich bin nicht böse auf dich. Ich mache mir Sorgen. Ich finde es gut, wie du dich verhältst, aber wenn du spürst, dass du ins Wasser musst, dann geh bitte auch selbständig ins Wasser. Ich habe dich immer gleich gern, auch wenn du gerade keine Beine hast.“
    Sam nickte gehorsam, aber George merkte sofort, dass die Einsicht noch nicht in ihm verankert war.
    „Das war falsch von mir, oder?“, fragte Sam tieftraurig.
    „Ja, aber denk an unsere Regeln. Es wird nicht wieder passieren, weil du ab jetzt ins Wasser gehst, wenn es nötig ist. Ich weiß, dass du denkst, du verpasst dann Zeit mit mir, aber das ist so im Leben. Laine geht zur Schule und zu Bill. Dadurch verpasst sie auch Zeit mit mir. Das gehört dazu.“
    „Ich würde nicht zur Schule und zu Bill gehen und immer bei dir bleiben“, sagte Sam.
    Jerry warf George einen Brillenblick zu.
    „Das ist ja schlimmer, als ich dachte“, sagte Jerry.
    „Es wird bald besser werden“, sagte George. Sams Defizite und seine Sehnsucht nach Zuwendung konnte man nicht in ein paar Tagen auffüllen. Er reichte Sam die Hand und Sam schloss sofort seine nassen, kühlen Finger um sie.
    „Ruh dich jetzt aus, Sam. Ich bleibe hier, bis du eingeschlafen bist. Morgen reden wir weiter.“
    Sam ließ sich in das Becken sinken. Ein paar Sekunden sah er noch durch das Wasser nach oben. Dann schloss er die Augen. George wartete, bis Sam tief schlief, bevor er seine Hand losließ.
     
     
     

     
     
    Am nächsten Morgen ging George durch den Flur Richtung Wäschekammer. Er wollte nach der Klinke greifen, als Vivian ihn mit schnellen, leisen Schritten einholte.
    „Warte, ich komme mit“, flüsterte sie.
    George öffnete fast lautlos die Tür und spähte in die Kammer. Alles war still, bis auf das leise Brummen der Sauerstoffpumpe.
    „Alles klar“, flüsterte George. „Er schläft noch.“
    Vivian trat an das Schwimmbecken und betrachtete Sam. Er hatte sich zusammengerollt, wie es seine Art war. Seinen Kopf und den größten Teil seines Oberkörpers verbarg Sam im Schlaf unter der blausilbernen Fluke. George vermutete, dass es sich dabei um eine instinktive Schutzhaltung handeln konnte.
    „Unglaublich“, flüsterte Vivian. „Ich könnte das nicht glauben, wenn ich es nicht sehen würde. George, es darf ihn nie jemand finden.“
    „Ja, das ist ein weiteres Problem, das ich lösen muss. Aber eins nach dem anderen.“
    George kniete sich neben das Becken und streckte den Arm ins Wasser. Er packte behutsam Sams Flosse und zog sie beiseite. Sam regte sich und drehte sich auf den Rücken. George strich ihm über die Stirn. Sam blinzelte und lächelte, als er George erkannte. Er richtete sich auf und zog sich am Beckenrand in eine sitzende Position. Wasser floss ihm aus den Kiemen. Dann hustete er einmal und atmete Luft.
    Vivian hatte all das mit verschränkten Armen beobachtet.
    Als Sam Vivian bemerkte, zuckte er kurz zusammen.
    „Sie hat dich gestern schon gesehen, keine Sorge“, beruhigte George ihn. Sam wurde ein bisschen rot. Vivian beugte sich zu ihm herunter und nahm Sams Gesicht in ihre warmen Hände. Sie küsste ihn auf die Stirn.
    „Das ist ein Familienkuss. Ich bin froh, dass du bei uns bist.“
     
     
    George reichte Sam den Brötchenkorb.
    „Danke, ich bin schon satt“, sagte Sam. George sah ihn leicht verwundert an.
    „Du isst doch sonst immer zwei. Geht es dir nicht gut?“
    „Doch, es geht mir gut“, sagte Sam. Er rutschte ein wenig auf seinem Stuhl herum.
    „Dann esse ich eben noch eins“, sagte Laine und nahm Sams Brötchen aus dem Korb.
    Vivian sah kurz zu Sam, der sein Messer

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