Der Hirte (German Edition)
1197 n.C.
Die Kapelle war wenig mehr als ein Holzgerüst, in das Weiden- und Haselzweige geflochten und mit Lehm und Erde verschmiert worden waren; das Dach bestand aus Reisigbündeln. Rainald stampfte den Schnee von seinen Stiefeln und kniete ächzend nieder. Er bekreuzigte sich, wurde sich des Bluts an seinen Händen bewusst, sah auf das nackte Kruzifix aus behauenen Baumstämmen und wusste nicht, was er sagen sollte.
„Da sind wir nun, Herr“, sagte er schließlich. Er räusperte sich. Von draußen hörte er die Stimme Blankas, ohne verstehen zu können, was die Sechsjährige gesagt hatte. Er hörte eine Antwort in einer unwesentlich tieferen Tonlage: Johannes, drei Jahre älter. „Da sind wir nun“, sagte er zum zweiten Mal. „Alle drei. Die gesamte Familie.“ Sein Atem schwebte vor ihm in der Düsternis der Kapelle.
Plötzlich fiel ihm ein, dass er das Schwert noch an der Hüfte trug. Mit vor Kälte tauben Fingern nestelte er die Verschlüsse auf und legte die Waffe neben sich auf den Boden. In den Falten der hellen Lederwicklung am Griff und in der Ziselierung der Parierstange war noch getrocknetes Blut zu sehen, schwarzbraun in der Finsternis wie Fäulnis. Selbst Rainald war überrascht gewesen, mit welcher Kraft es herausgespritzt war. Was er mit Schnee hatte reinigen können, hatte er gereinigt. Er hatte nicht gut gesehen, weil Tränen in seinen Augen gestanden waren und er sie versucht hatte wegzublinzeln, damit seine Kinder ihn nicht weinen sahen.
„Der zweite Streich war der Schlimmste. Ich starrte Caesar in die Augen und sah das Licht darin schwinden und wusste, dass ich noch einmal in diese klaffende Wunde würde schlagen müssen, um sein Leiden zu beenden.“ Er bemerkte, dass er laut gesprochen hatte. Das nackte Kreuz erwiderte nichts. „Ich habe ihn als Fohlen bekommen. Da war ich Knappe. Ich habe ihn aufgezogen und eingeritten. Als Johannes auf die Welt kam, trug er mich aus einem Hinterhalt, obwohl zwei Pfeile in seinem Fleisch steckten – er rannte einfach allen anderen Pferden davon. Auf dem Schlachtfeld vor Iconium stupste er mich so lange mit der Schnauze an, bis ich erwachte; die meisten von den anderen Verwundeten kamen um. Natürlich weißt Du das alles, Herr, genauso wie Du weißt, dass ich nicht anders konnte, als ihn zu töten. Mit dem gebrochenen Bein war nichts mehr zu machen. Die Wölfe hätten ihn sonst gekriegt.“ Rainald schwieg einen Augenblick. „Du weißt das alles, Herr, daher bitte ich Dich, mir zu sagen, dass ich das Richtige getan habe, weil ich es selbst nicht weiß.“
Das Kruzifix schwieg. Die Astlöcher schauten ausdruckslos an Rainald vorbei zur Stirnseite der Kapelle, wo das trüber werdende Nachmittagslicht hereinsickerte, als zögere es vor der mächtigen Gestalt, die in der Kapelle kniete. Rainald seufzte.
„Herr, ich vertraue Dir zwei Leben an: das meines Erstgeborenen Johannes und das meiner Zweitgeborenen Blanka. Ohne das Pferd können wir die Didrichsburg kaum vor Einbruch der Nacht erreichen; wir kommen bis Trier, aber dorthin kann ich mich nicht wenden. In der Nacht werden die Wölfe kommen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Herr, bitte hilf mir, damit ich meinen Kindern helfen kann.“ Er biss die Zähne zusammen, und weil der Schmerz immer noch zu tief war, flüsterte er nur mit gepresster Stimme: „Und schau gnädig auf die Seele Sophias. Sie war eine Heilige im Leben; nimm sie in Dein Reich auf und sage ihr, ich zähle die Tage, bis wir wieder vereint sind.“
Die Kinder hatten einen Kreis in den Schnee gestampft. Blanka trippelte von einem Bein auf das andere. Rainald konnte sehen, dass sie kurz davor stand, zu weinen, was unweigerlich dazu führen würde, dass sie keinerlei vernünftigem Argument mehr zugänglich war und nur mit Brüllen und Schubsen vorwärtsbewegt werden konnte. Zumindest fiel Rainald in diesen Situationen nichts anderes ein als zu brüllen und zu schubsen. Johannes’ dunkler Blick war undeutbar.
„Was ist?“, fragte Rainald. Die Stimmung, die in der Kapelle über ihn gekommen war, war bereits verflogen.
„Ich habe was gehört“, sagte Johannes.
„Und was?“
„Ich weiß nicht …“
„Der Schnee bricht Zweige ab, der Wind reibt die Äste aneinander, der Frost lässt das Eis knacken, deine Schwester klappert mit den Zähnen … etwas in der Art?“
Rainald hörte seine eigene Stimme und fand sie voller Hohn. Er bemühte sich, freundlich zu seinem Sohn zu sein, er bemühte sich weiß Gott, und gerade wenn er so
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