Im Funkloch
Nordwärts
Etwas prallte gegen meinen Hinterkopf und riss mich aus meinen Gedanken. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Schädel aus und verwandelte sich in Wut. »Hey!«, entfuhr mir und ich wirbelte herum. Meine Hand fuhr hoch in die Haare. Ich tastete nach Blut, aber zum Glück fühlte ich keins.
Es war schon die ganze Zeit über still im Bus gewesen. Aber jetzt breitete sich ein gespanntes Schweigen aus. Ich schaute runter, was mich am Kopf getroffen hatte: eine zusammengedrückte Bierdose, die nun im Mittelgang lag. Dann wanderte mein Blick zu dem, der sie geworfen hatte: Lucas.
Er saß breitbeinig auf dem mittleren Platz der Rückbank. Gerade beugte er sich vor, um die letzte Dose aus der Plastikhalterung des Sixpacks zu zerren. Mit der Dose in der Hand lehnte er sich zurück und schaute mich an. »Willst du was?« Er wog die Dose in der Hand, als würde er Maß nehmen. Und ich zweifelte nicht, dass er sie tatsächlich werfen würde, wenn ich jetzt etwas sagte, das ihn reizte. Nein . . . wenn ich auch nur den Mund aufmachte. Ich saß vierReihen vor ihm. Wenn er es darauf anlegte, würde er treffen – auch mit einer vollen Dose.
Ich erstarrte, der Schmerz und die Wut waren vergessen.
Alle im Bus schienen die Luft anzuhalten.
Eigentlich hätte ich schweigen und mich wieder umdrehen sollen. Niemand hätte mich für einen Feigling gehalten – alle wussten, was für ein Arschloch Lucas war, und dass er keine Provokation ausließ. Dass die Klassenfahrt für mich ein Spießrutenlauf sein würde, war mir nach der Sache vor einer Woche klar gewesen. Besser, ich hielt jetzt schon dagegen, sonst würde Lucas mich nur noch härter rannehmen. Das konnte er gut . . .
»Lass den Scheiß«, sagte ich gepresst.
Das bereute ich schon in dem Moment, in dem ich es gesagt hatte.
Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Ich spannte meine Muskeln an, um mich zu ducken, wenn er die Bierdose schmiss.
Lucas fuhr hoch und war mit einem ausladenden Schritt direkt bei mir. Er stützte sich an meiner Rückenlehne ab, die Bierdose immer noch in der Hand, und beugte sich zu mir runter, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Ich musste mich beherrschen, nicht zurückzuweichen. Mein Hals warwie ausgedörrt, doch ich wollte nicht schlucken – oder konnte nicht. Sein Atem war eine einzige Alkoholfahne. »Lauf doch weg, Sammie«, flüsterte er. »Kannst du doch so gut.«
Ich wusste, dass ich eine aufs Maul bekommen würde – egal, was ich jetzt sagte. Wenn nicht jetzt im Bus, dann später. Also schwieg ich. Es ging auch gar nicht anders, ich war wie gelähmt.
»Was ist hier los?«, hörte ich eine strenge Stimme hinter mir. Mit einem Mal fiel die Anspannung von mir ab. Die Rettung – wenigstens für den Moment.
Lucas richtete sich auf. »Nichts«, sagte er. »Was soll sein?«
Es war Frau Herzig, die Gymnasiallehrerin. Sie war klein und dürr, hatte aber eine schneidende Stimme. Von den Vertretungsstunden mit ihr wussten wir, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Lucas überragte sie um mehr als eine Kopflänge. Vorwurfsvoll starrte sie auf die Bierdose in seiner Hand. Daraufhin hielt er sie ihr hin, und sie hob schon die Hand, um sie ihm wegzunehmen – da öffnete Lucas mit der anderen Hand die Lasche. Es zischte, er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund ab.
Frau Herzig schaute mich und die anderen aus meiner Klasse an. »Darf der alles bei euch? Ist das euer Chef?«
Niemand rührte sich. Auch ich traute mich nicht, irgendetwas zu sagen. Ich war nur froh, nicht mehr im Mittelpunkt von Lucas' Interesse zu stehen.
Abfällig schüttelte Frau Herzig den Kopf, drehte sich um und ging wieder nach vorn. Dort redete sie auf unseren Klassenlehrer ein, Herrn Passlewski, auch Passi genannt. Der machte nur beschwichtigende Handbewegungen – wie immer, wenn es um Lucas ging. Frau Herzig hatte es schon richtig getroffen – der durfte wirklich alles bei ihm. Bestenfalls gab es mal einen tadelnden Blick . . . nie mehr. Was sich Lucas Passlewski gegenüber erlaubte, war immer ein beliebtes Thema auf dem Schulhof. Ich konnte sehen, dass Passi die Diskussion mit seiner Kollegin nicht weiterführen wollte. Er bückte sich, hob seinen Dackel hoch und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Lucas war bei mir stehen geblieben und beugte sich wieder zu mir runter. »Du weißt ja, was du tun musst, wenn du nicht willst, dass dir irgendwas passiert«, sagte er so
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