Untergang
sich zu Hause. Er hatte eine Schulzeit hinter sich gebracht, die nicht nur vollständig, sondern außergewöhnlich brillant war, und nach seinem Abitur wurden sämtliche seiner Anfragen zur Aufnahme in die Vorbereitungsklasse positiv beantwortet und seiner Mutter wäre vor Freude beinahe die Luft weggeblieben, obgleich sie überhaupt keine Ahnung hatte, was die Vorbereitungsklasse war, und sie hätte auch Libero noch fast erdrückt, als sie ihn an ihren enormen, vor lauter Glück und Stolz nur so hochragenden Busen presste. Libero hatte sich für Bastia entschlossen und über zwei Jahre brachte ihn jeden Montagmorgen eines seiner älteren Geschwister nach Porto-Vecchio, von wo aus er den Bus nahm. In Paris hatte Matthieu seine Eltern gebeten, ihm zu erlauben, sich ebenfalls in Bastia einzuschreiben. Sie hätten es ihm zugebilligt, seine schulischen Leistungen jedoch gestatteten ihm nicht, dies ins Auge zu fassen, wie er es sich selbst eingestehen musste. Er schrieb sich also an der Universität Paris IV für Philosophie ein, das einzige Fach, in dem er einen gewissen Erfolg vorweisen konnte, und er fand sich damit ab, allmorgendlich die Metro in Richtung der heruntergekommenen Häuser der Porte de Clignancourt zu nehmen. Seine Gewissheit, nur vorübergehender Klausner in einer fremden Welt zu sein, die nur in Parenthese existierte, half ihm nicht grade, Freunde zu gewinnen. Es schien ihm, als verkehre er mit Phantomen, die mit ihm keine einzige gemeinsame Erfahrung teilten und denen er zudem noch eine unerträgliche Arroganz vorwarf, als würde ihnen die schiere Tatsache, Philosophie zu studieren, das Privileg einräumen, das Wesen einer Welt zu verstehen, in der ein Großteil aller Sterblichen sich dumpf damit zufriedengab zu leben. Er knüpfte dennoch freundschaftliche Bande mit einer seiner Kommilitoninnen, Judith Haller, mit der er manchmal zusammenarbeitete und die er von Zeit zu Zeit ins Kino begleitete oder abends auf ein Glas. Sie war sehr intelligent und fröhlich und ihre mittelmäßige Schönheit hätte nicht ausgereicht, Matthieu abzustoßen, aber er war unfähig, eine Liebesbeziehung zu wem auch immer aufzubauen, zumindest hier in Paris, denn er war nicht dazu bestimmt zu bleiben, und anlügen wollte er niemanden. Und so verzichtete er im Namen einer Zukunft, die so ungreifbar war wie Nebel, auf die Gegenwart, was, so ist es, bei uns Menschen ja häufig genug geschieht. Eines Abends tranken und diskutierten sie lange in einer Bar an der Bastille und Matthieu ließ die Zeit zur letzten Metro verstreichen. Judith schlug ihm vor, bei ihr zu schlafen, und sie gingen, nachdem er seiner Mutter eine SMS geschickt hatte, zu Fuß zu ihr nach Hause. Judith bewohnte ein erbärmliches Dienstmädchenzimmer im sechsten Stock eines Hauses im zwölften Arrondissement. Sie ließ das Licht brennen, leise Musik laufen und legte sich in T-Shirt und Höschen ins Bett, Gesicht Richtung Fenster. Als Matthieu sich vollständig angezogen dicht neben sie legte, drehte sie sich wortlos zu ihm um, er sah ihre Augen im Dämmer funkeln, es schien ihm, als lächle sie bebend, er hörte ihren schweren und tiefen Atem und war davon ergriffen, er wusste, er brauchte nur die Hand auszustrecken und sie ganz leicht zu berühren, damit etwas geschähe, aber er vermochte es nicht, es war, als hätte er sie bereits im Stich gelassen und verraten, die Schuld lähmte ihn und er rührte sich nicht, zufrieden allein schon damit, ihr gegenüberzuliegen und sie so lange anblicken zu dürfen, bis ihr Lächeln verschwunden war und sie beide in den Schlaf gefunden hatten. Es lag ihm an ihr wie an seiner fernsten Möglichkeit. Manchmal, wenn sie gemeinsam Kaffee tranken, stellte er sich vor, wie er die Hand hob, um ihr die Wange zu streicheln, er konnte beinahe sehen, wie sich diese durchaus mögliche Hand ganz langsam in klarer Luft erhob und zärtlich eine der Strähnen von Judiths Haar berührte, bevor sie sich auf ihr Gesicht legte, dessen Hitze er in seiner hohlen Hand spürte, während sie sich gehen ließ, ganz sanft, dann plötzlich so tief und leise, und er wusste, so stark wie sein reelles Herz da zu schlagen begann, dass er den Abgrund nicht überspringen würde, der ihn von dieser möglichen Welt trennte, denn hätte er sich mit ihr vereint, er hätte sie auch zerstört. Diese Welt hatte nur so Bestand, auf halbem Wege zwischen Existenz und Nichts, und Matthieu beließ sie dort gewissenhaft, in einem komplexen Netz aus unerfüllten
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