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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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noch auf eine Runde einzuladen. Eines Tages verschwanden ohne warnende Vorzeichen seine Frau, seine Kinder und die Alte. Als Marie-Angèle dies erfuhr, suchte sie ihn auf, um ihn zu trösten, und fand ihn am Tresen im Zustand außergewöhnlicher Erregung vor. Er bekräftigte, dass seine Frau fort war und sämtliche Möbel mitgenommen hatte. Er schlief auf einer Matratze, die ihm zu überlassen sie sich nur ungern einverstanden erklärt hatte. Marie-Angèle wollte schon etwas den Umständen Entsprechendes äußern, als er ihr verkündete, dass dies das Beste gewesen sei, was ihm je widerfahren, er sei nun endlich von einer Furie und drei ebenso idiotischen wie undankbaren Rotznasen befreit, ganz zu schweigen von der Alten, die, bevor sie abgetaucht sei in Altersschwäche und Inkontinenz, geradezu Schatzkammern voller Boshaftigkeiten aufgefahren habe, um ihm das Leben zu versauern, denn sie sei von einer unfassbaren Niedertracht gewesen, so niederträchtig, dass er den Verdacht hegte, sie lache sich heimlich darüber ins Fäustchen, bettlägerig geworden zu sein und also die Garantie zu besitzen, der Welt bis ans Ende ihrer Tage auf den Sack gehen zu können, ohne dass es ihr wer auch immer würde vorwerfen können, und dass sie mindestens hundert werden würde, daran gäbe es keinen Zweifel, das alte Fleisch sei zäh, seit Jahren schon träumte er von häuslichen Unfällen oder Euthanasie, ohne etwas zu sagen, und er hätte stoisch ein Leben ertragen, das er seinem schlimmsten Feind nicht wünschen wolle, aber damit sei jetzt Schluss und es sei endlich Zeit zu leben, er habe nicht vor, sich dies zu versagen, er würde nun endlich seine wahre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen können, die er stets tief in sich vergraben gelassen habe, aus Müdigkeit, Abscheu, Feigheit, es sei jetzt Schluss mit der Unterdrückung, er erwache zu neuem Leben, und er sagte zu Marie-Angèle, dass er es allein ihr zu verdanken habe, sich endlich zu Hause zu fühlen, umgeben von teuren Freunden, seine Frau könne gern krepieren, das gehe ihn nichts mehr an, er habe bezahlt, teuer bezahlt habe er für das Recht, ein Egoist zu sein, und noch nie, nein, noch nie habe er sich so glücklich gefühlt, denn glücklich sei er nun endlich, er hörte nicht auf, es mit spürbarer und beinahe pathologischer Offenherzigkeit zu wiederholen, indem er auf Marie-Angèle einen aus lauter Dankbarkeit so verzweifelten Blick richtete, dass sie fürchtete, er werde sich gleich auf sie werfen und in seine Arme schließen, was er zu tun sich offensichtlich zurückhielt und sich darin beschied, Danke zu sagen, ohne ihr eingestehen zu können, ihr vor allem dafür dankbar zu sein, dass sie Virginie in diese Welt gesetzt hatte, mit der er seit Wochen diejenige Verbindung unterhielt, die aus ihm endlich einen glücklichen Mann gemacht hatte. Und nie zuvor zeigte Glück sich so prahlerisch. Bernard Gratas lachte ohne Unterlass, sehr laut, bei jeder Kleinigkeit, er schäumte nur so über vor Energie, vervielfachte die Gänge zwischen Tresen und Gastraum, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Erschöpfung oder Trunkenheit zu zeigen, obgleich er inzwischen begann, wie ein Loch zu trinken, er überschüttete die Gäste mit völlig unangebrachten Zuneigungsbekundungen und verlor mit sichtbarem Wohlbehagen Geld, das Schauspiel seiner Euphorie hatte etwas grundlegend Peinliches, als könne es nur das Symptom einer hundsgemeinen Seelenkrankheit sein, von der zu fürchten war, sie wäre ansteckend, und je zuvorkommender und freundschaftlicher sich Bernard Gratas zeigte, desto angeekelter wich man ihm aus, ohne dass er es wahrzunehmen schien, fest dazu entschlossen, nun in einer Welt zu leben, die allein der Macht der Illusionen gehorchte. Aber vielleicht kann die Herrschaft der Illusion zu unser aller Leid niemals perfekt sein, und selbst ein Mann wie Bernard Gratas musste dunkel spüren, dass nichts von alldem wirklich war, und also taumeln unter dem Gewicht der Gewissheit, die er weder zerstören noch formulieren, sondern allein fliehen konnte, indem er sein Glück mit grotesker und hoffnungsloser Ausdauer zur Schau trug, und er verstand erst an jenem Tag im Juni, warum er nachts manchmal wach geworden war mit vor Angst schlagendem Herzen, als Virginie, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm zusammenleben wolle, voller Herablassung achselzuckend ihm zur Antwort gegeben hatte, dass er nicht mehr ganz sauber ticke und sie keine Lust mehr habe, ihn zu sehen, woraufhin

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