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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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sie sich dann auf der Terrasse in die Sonne gesetzt und bei ihm ein kühles Getränk bestellt hatte, das er ihr wortlos servierte. Das, worauf zu fliehen er sich versteift hatte, holte ihn jetzt ein und begann ihn zu zerbrechen. Virginie sah ihn eisig an: »Mach nicht so ein Gesicht. Du bist lächerlich.«
    Als hielte ihn ein absurdes Beharrungsvermögen aufrecht, erledigte er für einige Tage seine Arbeit ganz normal weiter, und eines Abends, zur Stunde des Aperitifs, als die Bar voller Gäste war, zerfloss er in Tränen und stellte sein Elend genau so aus, wie er es mit seinem Glück getan hatte, mit der gleichen unkeuschen Arglosigkeit, er beschwor lauthals zwischen zwei Schluchzern die Perfektion von Virginies nacktem Körper herauf, die undurchdringliche Starre ihres Blicks einer schmollenden Königin, während er sich darin verbissen hätte, in ihr mit aller Kraft hin- und herzukeuchen, ohne dass es ihm je gelungen wäre, ihr auch nur einen Seufzer zu entlocken, als wäre sie nur die Zeugin gewesen eines Schauspiels, das sie mit äußerster Wachsamkeit verfolgte, das sie aber nur am Rande betraf, und er erinnerte sich weinend daran, dass ihr Blick, je inbrünstiger er sie liebte, umso starrer und härter wurde zwischen ihren langen Wimpern, die kein einziges Zittern erbeben ließ, und er sich von diesem Blick zugleich erniedrigt und angezogen fühlte, der ihn in ein Versuchskaninchen verwandelte, ohne dass seine Erregung darunter gelitten hätte, ganz im Gegenteil, sagte er laut schniefend, er sei mehr und mehr in Erregung geraten, und in der Bar wurden die ersten gemurmelten Missbilligungsbekundungen laut, irgendwer rief im zu, sich wieder zu fangen und das Maul zu halten, aber er konnte nicht schweigen, er hatte keine Verbindung mehr zur Scham, sein Gesicht glänzte vor Tränen und Rotz, und er gab Details kund, präzise und abstoßende, er sprach davon, wie Virginie, ohne ihn aus den Augen zu lassen, ihren Handteller auf seinen Rücken drückte und langsam ihren Mittelfinger entlang seiner Wirbelsäule nach unten gleiten ließ und ihn inzwischen mit einer Art schmerzhafter Verachtung anblickte, die er jedes Mal schreckerfüllt erkannte, wohl wissend, dass es ihm bald unmöglich wäre, sich zurückzuhalten zu kommen, und während die bestürzte Zuhörerschaft die Reise dieses unschicklichen Mittelfingers verfolgte, deren unerbittliches Ziel sie nur allzu gut erriet und sich schon darauf gefasst gemacht hatte, die minutiöse Beschreibung eines Orgasmus des Bernard Gratas erleiden zu müssen, kam Vincent Leandri auf ihn zu, versetzte ihm zwei Ohrfeigen, packte ihn am Arm und zog ihn vor die Tür. Bernard Gratas kniete nun auf dem Asphalt und weinte nicht mehr. Er schaute Vincent an.
    »Ich habe alles verloren. Ich habe mein Leben in den Sand gesetzt.« Vincent antwortete nichts. Er versuchte, sämtliche seiner zu Mitleid fähigen Kräfte zu mobilisieren, aber er hatte noch immer Lust, ihn zu schlagen. Er hielt ihm ein Taschentuch hin.
    »Du hast auch mit ihr geschlafen. Ich weiß es. Wie konnte sie das nur tun?«
    Vincent kniete sich zu ihm nieder.
    »Wenn du der Meinung warst, mit Virginie zusammen gewesen zu sein, dann bist du der letzte Volltrottel. Hör auf, die Welt mit deiner Geschichte zu nerven. Benimm dich anständig!«
    Bernard Gratas schüttelte den Kopf.
    »Ich habe mein Leben in den Sand gesetzt.«

Paris zu hassen, hatte Libero schließlich seine eigenen Gründe gefunden, die er in keiner Weise Matthieu anlasten konnte. Und so kam es, dass sie jeden Morgen und jeden Abend in einem vollgestopften Waggon der Linie 4 Seite an Seite in einer grenzenlosen Bitterkeit kommunizierten, die allerdings für jeden von ihnen unterschiedliche Bedeutungen besaß. Libero hatte zunächst geglaubt, dass man ihn soeben ins pulsierende Herz des Wissens eingeführt habe, gleich einem Eingeweihten, dem es gelungen war, der Gemeinschaft der Sterblichen unverständliche Bewährungsproben zu bestehen, und er konnte sich der großen Halle der Sorbonne nicht nähern, ohne sich vom zaghaften Stolz erfüllt zu fühlen, der die Anwesenheit der Götter signalisiert. Er hatte stets seine analphabetische Mutter im Schlepptau, seine Bauern- und Hirtenbrüder, all seine in heidnischer Nacht der Barbagia gefangenen Vorfahren, die vor Freude in der Tiefe ihrer Gräber erbebten. Er glaubte an die Unendlichkeit der ewigen Dinge, an ihre unwandelbare Erhabenheit, eingeschrieben ins Giebelwerk eines hohen und reinen Himmels. Und er

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