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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Bahnsteig beschimpft wurde, ließ bereits einen gewissen Schluss zu, allerdings glaubte er sich in Holland und es verging fast eine Woche, bevor ihm klar wurde, dass er zur Zwangsarbeit nach Belgien verliehen worden war. Wir hatten halb Europa kaputt geschlagen, deshalb mussten unsere Väter zuerst die anderen Länder aufräumen, bevo r – in ein paar Jahren vielleich t – auch Deutschland an die Reihe kam.
    Mem jedoch sagte, und Ooti stimmte ihr zu: »Er hatte Glück. Es hätte auch Sibirien sein können.«
    Nur manchmal ging meiner Mutter der Glaube an Foors Glück für kurze Zeit verloren: wenn seine Rotkreuzbriefe eintrafen, fünfundzwanzig Worte auf vorgedrucktem Papier, die mehr oder weniger denselben Inhalt hatten. »Gesundheitlich sehr schwach, denke viel an euch«, hatte auch die letzten Male da gestanden, während »Arbeit auf dem Hof jetzt besser« eine erfreuliche Veränderung und echte Neuigkeit darstellte. Allerdings war aus dem »Schickt Essen, Mantel, Schuhe« seines vorherigen Briefes zuletzt ein »Schickt Pullover, Mantel, Schuhe, Essen, Seife« geworden.
    Seine Versorgungslage hatte sich also wie die unsere noch verschlechtert.
    »Was glaubt er denn, woher wir das alles nehmen sollen?«, sagte Mem leise. An Tagen, an denen Post von Foor eintraf, konnte es passieren, dass sie plötzlich aus dem Raum ging und sich in die leere Küche setzte, ganz egal ob wir an der Reihe waren oder nicht.
    »Kommst du mit raus?«, fragte ich Henry, der wieder auf seiner Matratze saß und schrieb.
    Er blickte verdutzt auf. »Raus?«
    Dies war in der Tat eine Frage, die in letzter Zeit nicht oft an ihn gerichtet worden war. Wenn wir aus der Schule kamen, wärmten wir uns unter der Bettdecke auf und schonten unsere Schuhe.
    »Es ist schon fast Sommer!«, bekräftigte ich.
    Ein bedeutender Nachteil des Zusammenlebens zu viert auf einem Zimmer ist, dass es so gut wie kein geschwisterliches Leben mehr gibt. Man kann kein Wort mit dem Bruder reden, von dem die Mutter nicht glaubt, dass es sie auch etwas angeht.
    »Es fühlt sich warm an im Vergleich zur letzten Woche, aber in Wirklichkeit ist es nur zehn Grad über null«, belehrte mich Mem sofort. »Die allerbeste Zeit für Erkältungen.«
    Meine Mutter ist nicht auf einer Insel geboren, sondern in Hannove r – dafür kann sie nichts, aber man merkt es leider ab und zu.
    »Henry und ich kriegen keine Erkältung, Mem«, entgegnete ich geduldig und wandte mich wieder an meinen Bruder. »Kommst du jetzt oder nicht?«
    »Um was zu tun?«, fragte Henry, aber er guckte bereits wieder in sein Heft und hätte mich wahrscheinlich auch dann nicht gehört, wenn ich eine bessere Antwort gehabt hätte als: »Das sehen wir doch, wenn wir draußen sind.«
    In Wahrheit brannte ich darauf, mit meinem Bruder am Gartentor zu stehen, damit der neue Junge uns vom Fenster aus sah. Vielleicht wurde er neugierig und kam zu uns hinunter! Er und seine Mutter waren nun seit zwei Stunden in ihrem Zimmer und ich erinnerte mich gut, dass wir selbst am ersten Tag nur stumm auf den Matratzen gesessen, ein wenig geheult, zwischendurch geschlafen und auf nichts anderes gewartet hatten als den nächsten Fliegeralarm. Aber mit Alarm war es vorbei, überaus müde hatte er auch nicht gewirkt, es gab also keinen erkennbaren Grund, nicht aus dem Zimmer zu kommen, um die Nachbarn kennenzulernen!
    Henrys Heft war ein altes Rechnungsbuch von 1925, das Frau Kindler Ooti für ihn gegeben hatte und in dem noch etliche Seiten frei ware n – ein kostbares Heft aus einer Zeit, in der Papier noch nicht so knapp gewesen war, dass man jeden verfügbaren Schnipsel eng beschrieb. Nicht nur am Ende des Heftes, sondern auch zwischen den Eintragungen war noch viel Platz für Henrys Schreiberei.
    Ich startete einen letzten Versuch: »Wenn du nicht aus dem Haus kommst, wird dir bald gar nichts mehr zu schreiben einfallen!«
    Geschafft! Henry blickte auf. »Du glaubst, ich schreibe über Hamburg?«, fragte er verblüfft.
    Das war nun wirklich eine kleine Sensation. Henry hatte nämlich noch nie verraten, worüber er schrieb! Mem und ich sahen ihn fast mit offenem Mund an.
    »Ich schreibe über Davor«, gestand er und wurde rot. Dann zog er ein klein wenig den Kopf ei n – wie zum Zeichen, dass er jetzt nicht mehr da wa r – und beugte sich schnell wieder über sein Heft.
    »Davor. Natürlich«, sagte Mem leise.
    Wenn ich Angst bekomme, fängt das oben auf dem Kopf an. Es ist ein unangenehmes, prickelndes Gefühl, ein Gefühl,

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