Der gläserne Schrein (German Edition)
PROLOG
Markt am Adelheidispützchen,
Bechlinghoven bei Bonn
19. September Anno Domini 1413
Über dem Lager der Gaukler lag der erste Hauch der Morgendämmerung. Noch funkelten am dunkelblauen Himmel die letzten Sterne, doch im Osten erschien bereits ein erster heller Streifen, der sich alsbald rötlich färben würde.
Das Gras unter Christophorus’ Füßen war nass vom Tau. Er stieg in den kleinen Bach und wusch sich gründlich. Trotz der frühen Stunde waren auch die anderen Mitglieder der Truppe schon auf den Beinen. Gizella, die Anführerin, war bereits dabei, das Feuer zu entfachen. Ihr Gefährte Winand und der hünenhafte Feuerkünstler Vico hatten begonnen, die Habseligkeiten der Gaukler zusammenzutragen und auf dem vierrädrigen Karren zu verstauen, denn nach der Frühmahlzeit wollten sie aufbrechen.
Nicht weit von Christophorus entfernt, hockten Gizellas Tochter Estella und die Französin Manon am Ufer des Baches und schrubbten die Teller, Schüsseln und Becher vom Abendessen.
Estella winkte und lächelte fröhlich; Christophorus nickte und zwinkerte ihr zu, was die junge Akrobatin zum Lachen brachte. Sie hatten in der vergangenen Nacht das Lager geteilt, doch um seinen guten Ruf als Ablasskrämer zu wahren war Christophorus zwei Stunden nach Mitternacht wieder zurück unter seine eigenen Decken gekrochen. Manchmal bedauerte er diese Heimlichkeiten, denn er mochte Estella wirklich gern. Andererseits hatte er ja gar nicht vor, sich offen zu ihr zu bekennen. Ihm gefiel sein freies und ungebundenes Leben – nicht umsonst gab er sich schon seit Jahren als Dominikanermönch aus. Diese Verkleidung, zusammen mit seinem außerordentlichen Talent, Schriften, Siegel und Urkunden zu fälschen, hatten ihm so manche Tür geöffnet und einträgliche Geschäfte verschafft.
Nur eines vermied er: Seit der Geschichte in Aachen vor über einem Jahr trat er nirgendwo mehr als Vertreter der Heiligen Römischen Inquisition auf. Zwar besaß er mehrere eindrucksvolle Dokumente, unter anderem auch eine gesiegelte päpstliche Bulle, die ihn legitimierte – natürlich von ihm höchstselbst angefertigt –, doch erschien ihm diese Maskerade inzwischen als zu gefährlich. Deshalb hatte er, kurz nachdem er im vergangenen Jahr Aachen verlassen hatte, eine weitere Urkunde angefertigt, die ihn offiziell aus dem Dienste der Inquisition entließ.
Während er sich abtrocknete und wieder in sein Habit schlüpfte, dachte er kurz an die Umstände, die ihn im vergangenen Jahr in die Stadt Karls des Großen geführt hatten. Manchmal vermisste er Aldo, seinen guten Freund und Gefährten auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela, noch immer schmerzlich. Ihm hatte er am Totenbett gelobt, sich um dessen Mutter und Schwester zu kümmern. Ob ihm das wirklich gelungen war, bezweifelte Christophorus jedoch.
Merkwürdig, überlegte er, dass er gerade heute wieder an die Vorfälle während der Aachener Heiltumsweisung denken musste. Vielleicht lag es daran, dass der Jahrmarkt, der gerade hinter ihnen lag, ebenfalls an einer Pilgerstätte stattgefunden hatte. Alljährlich im September zogen unzählige Wallfahrer zu dem kleinen Pützchen bei Bechlinghoven, der Quelle, die an der Stelle entsprungen war, wo die heilige Adelheidis einst in Zeiten einer großen Dürre einen Stab in die Erde gerammt und damit die Bauern der Umgebung vor großem Schaden bewahrt hatte. Gewiss, mit der Aachenfahrt konnte sich dieser Jahrmarkt nicht messen, dennoch hatte Christophorus auch hier mit seinen Ablassurkunden gute Geschäfte machen können.
Als er zu der Feuerstelle zurückkehrte, saßen die anderen bereits im Kreise beisammen, und Gizella schlug Eier in eine schmiedeeiserne Pfanne. Der Duft von Brot, das in der Glut knusprig braun röstete, lag in der Luft.
Dankbar nahm Christophorus von Manon eine Holzschale sowie einen Becher mit dem Most aus Sommeräpfeln entgegen und setzte sich ebenfalls.
«Da kommt Heinrich!», rief Estella und deutete auf einen jungen Mann in abgetragenen Kleidern, der auch zu den Gauklern gehörte.
Gizella richtete sich auf und blickte in seine Richtung. «Es scheint, als habe er gute Nachrichten.» Sie bedeutete Heinrich, sich zu ihnen zu setzen. «Nun, was hast du in Erfahrung bringen können?»
Heinrich nahm sich ein Stückchen von dem gerösteten Brot und warf es, da es noch heiß war, von einer Hand in die andere. «Ich war bei Friedmund und seiner Gruppe, danach noch kurz bei den umherziehenden Weibern», berichtete er
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