Unterm Kirschbaum
seiner Klassenkameraden auch schon angewetzt. Als ihr Sohn sie sah, kam er auf sie zugesprungen, und sie musste ihn auffangen und einmal um ihre Achse wirbeln. Dabei juchzte er wie auf der Achterbahn. Dann nahm sie ihm den schweren Ranzen ab und warf ihn sich selbst über die Schulter.
»Na, wie war’s?«
»Ich kriege auch eine Eins in Mathe, Mama!«
»Wahnsinn! Du bist ja besser als ich.« Sie hätte ihn am liebsten auf offener Straße abgeküsst, wusste aber, dass er das peinlich finden würde. »Was wünschst du dir denn?«
»Dass wir nach München fliegen und ich Bayern spielen sehen kann.«
»Die spielen doch auch hier in Berlin …«
»Bitte, Mama!«
»Schön, aber nicht, wenn sie gegen Hertha spielen, ich kann Hertha nicht verlieren sehen.«
Kevin sprang jubelnd vor ihr her, und sie war so glücklich wie lange nicht mehr.
Dies alles war allerdings nicht wirklich geschehen, die kleine Szene hatte es lediglich als diffusen Film in ihrem Kopf gegeben. Seit einer halben Stunde saß sie schon an Kevins Grab und wartete auf Bilder wie diese. Hier kamen sie immer, zu Hause nie.
Ach, wenn Kevin noch lebte … Ein Tumor im Kopf, nicht zu besiegen. Wäre Kevin nicht gestorben, hätte sie sich nicht von Michael getrennt, wäre sie nie Frau Wiederschein geworden. Wenn und hätte … Sie war von Hause aus Filmkauffrau, wie sich der Abschluss im Studiengang in Babelsberg jetzt nannte, hatte aber auch Schauspielunterricht genommen und auf einigen Bühnen gestanden und etliche Filme gedreht. Man hatte ihr eine große Karriere vorausgesagt, doch nach Kevins Tod und der Trennung von ihrem ersten Mann war sie schwer erkrankt. Depressionen, bipolare Persönlichkeitsstörungen … Die Seelenklempner hatten immer neue Krankheitsbilder entdeckt. Als sie dann Wiederschein begegnet war, hatte sich ihr Zustand deutlich gebessert, und sie war sozusagen die Geschäftsführerin im ›à la world-carte‹, das heißt, sie erledigte die Buchführung und war für den Einkauf, die Personalangelegenheiten und das Marketing zuständig. Dennoch, wenn sie einen Film über sich gedreht hätte, wäre ›Das Leben ist eine Sackgasse‹ der Titel gewesen, der alles auf den Punkt brachte. Wiederschein war eine Sackgasse, und das ›à la world-carte‹ war eine Sackgasse. Sie standen kurz vor der Pleite, denn so gut sich die Idee auch anhörte, den Leuten die Speisen anzubieten, die sie im Urlaub so gern gegessen hatten, so schlecht ließ sie sich umsetzen, denn im Zweifelsfall ging man lieber dorthin, wo man Authentisches erwarten konnte, aß also sein Tandoori Chicken beim Inder und sein Masapam beim Thai und nicht bei ihnen in Frohnau.
Ja, sie liebte Wiederschein noch immer, weil sie ihm vertraute, doch eines Tages einen Weg aus ihrer Sackgasse zu finden. Irgendetwas fiel ihm sicher ein, was ihrem Leben wieder einen Sinn gab, etwas Außergewöhnliches. Vielleicht ließen sie in Frohnau alles stehen und liegen und zogen durch die Welt wie Bonnie und Clyde, beraubten Lebensmittelgeschäfte, Tankstellen und kleinere Banken und erschossen ein Dutzend Polizeibeamte, angefangen mit Axel Siebenhaar. Langweilig war das sicher nicht, und Wiederschein hätte keinen Grund gehabt, sich zu beklagen. Und wenn dann ihr BMW von den Kugeln eines SEK s durchsiebt wurde, wie der Ford Deluxe von Bonnie und Clyde am Black Lake in Louisiana, dann war das allemal ein schönerer Tod als der durch einen Gehirntumor. Die Welt hatte so viel zu bieten, man musste nur zugreifen.
Es war später Nachmittag, als sie den Parkfriedhof Neukölln verließ. Sie überlegte, ob sie nach Steglitz oder zum Kudamm fahren und ins Kino gehen sollte. Ja und nein. Zuerst einmal wollte sie ihre alte Heimat besuchen, das heißt, durch die Straße gehen, in der sie aufgewachsen war, den Thuyring in Tempelhof. Wiederschein kam da bestimmt nicht mit, denn der Thuyring war für ihn langweilig hoch drei. Sie ging zum Buckower Damm, wo sie ihren kleinen Wagen geparkt hatte.
*
Das Team des Restaurants ›à la world-carte‹ war klein, aber alles andere als langweilig. An seiner Spitze war Mohamadou Kumba zu finden, der Koch. Zumeist stand Rainer Wiederschein selbst am Herd und gab dem anderen vor, was zu tun war, doch Mohamadou konnte durchaus selbstständig arbeiten, und manches exotische Gericht war seine eigene Kreation. Er sprach fließend Französisch und hatte das Kochen in Marseille gelernt, betonte aber, dass er Deutschland liebe, weil Kamerun einmal deutsche
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