Unterm Kirschbaum
hatte. Der Trainer hatte geflucht. Auch ein ehemaliger West-Berliner hätte kein Recht, sich derart dusselig anzustellen.
Das Spiel seines Vereins war voll und ganz auf ihn zugeschnitten, das heißt, er sollte der Abwehr Halt geben, im Mittelfeld für Kreativität sorgen und im Angriff Tore schießen. So die Theorie. In der Praxis aber hatte er enorme Schwierigkeiten damit, in derselben Sekunde von der Seitenlinie einen Ball über 30 Meter hinweg in den Strafraum des Gegners zu schlagen und ihn von dort höchstpersönlich ins Tor zu köpfen. Seine Flanke landete also dort, wo niemand stand.
»Das ist doch Schwachsinn, was du machst!«, schrie der Trainer.
»Ich kann doch nicht überall sein!«, brüllte Klütz zurück.
»Doch!«
In den nächsten Minuten versuchte Klütz, immer da zu sein, wo der Ball nicht hinkommen konnte. Er wollte seine Ruhe haben. Und als seine Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen bekam, weigerte er sich, ihn zu schießen. Ihr linker Außenverteidiger trat schließlich an – und jagte den Ball einen Meter über die Querlatte. Es blieb dabei, dass sie 0:1 hinten lagen.
»Meinst du, Real Madrid kauft dich jetzt noch?«, fragte ihn sein direkter Gegenspieler, ein gestylter Jüngling mit Brilli im Ohr.
Klütz riss sich zusammen und ignorierte diesen und auch die nächsten fünf seiner Sprüche. Seine Gedanken schweiften ab. Er musste raus aus seiner kleinen Wohnung in Friedenau. Am besten er kaufte sich ein Grundstück am Rande der Stadt oder draußen im Umland und zog mit Sandra in ein neu gebautes Haus. Noch einmal völlig von vorn anfangen. Und dann Spielervermittler werden. Mit den Insiderkenntnissen, die er in all den Jahren angesammelt hatte, stach er die anderen aus. Damit blieb er seinem Fußball treu, ohne dass er sich mit drittklassigen Trainern und geistig minderbemittelten Gegenspielern herumärgern musste.
Beim nächsten Angriff beschloss Klütz, es allein zu versuchen. Er eroberte sich den Ball im eigenen Strafraum, lief über das ganze Spielfeld und spielte alle aus, auch den gegnerischen Torwart – um den Ball dann zielsicher am leeren Tor vorbeizuschieben.
»Et is nur ’n Tor, wenn de zwischen die beeden Pfosten triffst«, erklärte ihm sein Gegenspieler. »Haste noch nie Fußball jespielt?«
Daraufhin versetzte ihm Klütz einen solch heftigen Stoß gegen die Brust, dass er mit dem Hinterkopf gegen den Torpfosten krachte und zu Boden ging. Die Folge war eine Rote Karte und eine Sperre für drei Spiele. Das Sportgericht sollte später von ›mangelnder Impulskontrolle‹ sprechen und ihn als Wiederholungstäter bezeichnen. Insider wussten zu berichten, dass er als Jugendlicher mehrfach wegen gefährlicher Körperverletzung bestraft worden war.
Als Klütz geduscht hatte und sich an den Spielfeldrand stellte, um seinen zehn verbliebenen Kameraden zuzusehen, wie sie gerade das 0:5 kassierten, sah er Sandra ins Stadion kommen. Wenn das kein Trostpreis war.
*
Rainer Wiederschein saß mit Gerhard Kalytta im Restaurant und frühstückte mit ihm.
»Wie lebt es sich so als Psychologe?«
Der alte Schulkamerad lachte. »Sage ich zu einem Patienten: ›Gratuliere! Ich habe Sie von Ihrem Wahn geheilt.‹ – Der Expatient kläglich: ›Was gibt’s da zu gratulieren? Gestern war ich Napoleon, heute bin ich nur ein Nobody.‹«
»Was sagt uns das?«, wollte Wiederschein wissen.
»Dass immer mehr Patienten zu mir kommen, die deswegen verbittert sind, weil sie es nicht zu einiger Berühmtheit gebracht haben. Früher wollten alle Menschen in den Himmel, heute wollen sie ins Fernsehen. Und wer nicht ins Fernsehen oder wenigstens in die Zeitung kommt, der kommt zu mir.«
»Und du lebst nicht schlecht davon …«
Kalytta lachte. »Ja, und ich verhandele gerade mit einem privaten Sender, ob ich nicht so eine Art Show mit Leuten bekomme, die in die Therapie müssten.«
»Unsere ganze Gesellschaft müsste in die Therapie«, sagte Wiederschein.
»Du doch nicht«, stellte Kalytta fest. »Du hast ein wunderschönes Restaurant, du hast eine wunderschöne Frau – fürwahr, ich muss dich glücklich preisen.«
»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Psychologe zu werden?«, fragte Wiederschein.
Kalytta zog seine Pfeife aus dem Etui. »Ein echter Freudianer ist eben auf Mundkrebs aus …«
»Wie das?«
»Na, weil unser Meister und Guru 16 Jahre lang an Mundkrebs gelitten hat und schließlich auch daran gestorben ist«, erklärte ihm Kalytta. »Wie ich auf die Idee
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