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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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waren helle, zarte, ungewöhnliche Träume, die ihn wie Bildnisse oder wie Alleen fremdartiger Bäume umstanden, ohne daß etwas in ihnen geschah. Reine Bilder, nur zum Anschauen, aber das Anschauen derselben war doch auch ein Erleben. Es war ein Weggenommensein in andere Gegenden und zu anderen Menschen. Es war
    ein Wandeln auf fremder Erde, auf einem weichen, angenehm zu betretenden Boden, und es war ein Atmen fremder Luft, einer Luft voll Leichtigkeit und feiner, träumerischer Würze. An Stelle dieser Bilder kam zuweilen auch ein Gefühl, dunkel, warm und erregend, als glitte ihm eine leichte Hand mit weicher Berührungen über den Körper.
    Beim Lesen und Arbeiten hatte Hans große Mühe, aufmerksam zu sein. Was ihn nicht
    interessierte, glitt ihm schattenhaft unter den Händen weg, und die hebräischen Vokabeln mußte er, wenn er sie in der Lektion noch wissen wollte, erst in der letzten halben Stunde lernen. Häufig aber kamen jene Momente körperhafter Anschauung, daß er beim Lesen alles Geschilderte
    plötzlich dastehen, leben und sich bewegen sah, viel leibhaftiger und wirklicher als die nächste Umgebung. Und während er mit Verzweiflung bemerkte, daß sein Gedächtnis nichts mehr
    aufnehmen wollte und fast täglich lahmer und unsicherer wurde, überfielen ihn zuweilen ältere Erinnerungen mit einer unheimlichen Deutlichkeit, die ihm wunderlich und beängstigend erschien.
    Mitten in der Lektion oder bei einer Lektüre fiel ihm manchmal sein Vater oder die alte Anna oder einer seiner früheren Lehrer oder Mitschüler ein, stand sichtbar vor ihm und nahm für eine Weile seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Auch Szenen aus dem Stuttgarter Aufenthalt, aus dem Landexamen und aus den Ferien erlebte er wieder und wieder, oder er sah sich mit der Angelrute am Flusse sitzen, roch den Dunst des sonnigen Wassers, und zugleich kam es ihm vor, als liege die Zeit, von der er träumte, um ganze lange Jahre zurück. An einem laulich feuchten, finsteren Abend schlenderte er mit Heilner im Dorment hin und her und erzählte von daheim, vom Papa, vom Angeln und von der Schule. Sein Freund war auffallend still; er ließ ihn reden, nickte hie und da oder tat mit seinem kleinen Lineal, mit dem er den lieben langen Tag spielen mußte, ein paar nachdenkliche Hiebe in die Luft. Allmählich verstummte auch Hans; es war Nacht geworden, und sie setzten sich auf den Sims eines Fensters.
    »Du, Hans?« fing Heilner schließlich an. Seine Stimme war unsicher und aufgeregt. »Was?« »Ach, nichts.« »Nein, red nur!«
    »Ich dachte bloß - weil du so allerlei erzählt hast -« »Was denn?«
    »Sag, Hans, bist du eigentlich nie einem Mädchen nachgelaufen?«
    Es entstand eine Stille. Davon hatten sie noch nie gesprochen. Hans fürchtete sich davor, und doch zog dieses rätselhafte Gebiet ihn wie ein Märchengarten an. Er fühlte, wie er rot wurde, und seine Finger zitterten.
    »Nur einmal«, sagte er flüsternd. »Ich war noch ein dummer Bub.«
    Wieder Stille. » und du, Heilner?« Heilner seufzte.
    »Ach, laß! - Weißt du, man sollte gar nicht davon reden, es hat ja keinen Wert.« »Doch, doch.« »
    Ich hab' einen Schatz.« »Du? Ist's wahr?«
    »Daheim. Vom Nachbar. Und diesen Winter hab' ich ihr einen Kuß gegeben.« »Einen Kuß ?«
    »Ja. - Weißt du, es war schon dunkel. Abends, auf dem Eis, und ich durfte ihr helfen, die Schlittschuhe ausziehen. Da hab' ich ihr einen Kuß gegeben.« »Hat sie nichts gesagt?« »Gesagt nicht. Sie ist bloß fortgelaufen.« »Und dann?« »Und dann! - Nichts.«
    Er seufzte wieder, und Hans sah ihn an wie einen Helden, der aus verbotenen Gärten kommt.
    Da läutete die Glocke, man mußte zu Bett gehen. Dort lag Hans, als die Laterne gelöscht und alles still geworden war, noch länger als eine Stunde wach und dachte an den Kuß, den Heilner seinem Schatz gegeben hatte.
    Am andern Tag wollte er weiterfragen, schämte sich aber, und der andere, da Hans ihn nicht fragte, scheute sich, von selber wieder davon anzufangen. In der Schule ging es Hans immer schlechter. Die Lehrer fingen an, böse Gesichter zu schneiden und sonderbare Blicke zu
    schießen, der Ephorus war finster und ärgerlich, und auch die Mitschüler hatten längst gemerkt, daß Giebenrath von seiner Höhe herabsank und aufgehört hatte, auf den Primus zu zielen. Nur Heilner merkte nichts, da ihm selber die Schule nicht sonderlich wichtig war, und Hans selber sah alles geschehen und sich verändern, ohne darauf zu achten.
    Heilner hatte

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