Unterm Rad
und ließ doch, ohne es zu wollen, eine weinerliche
Kläglichkeit durchscheinen, welche dem Sohn wehe tat. Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lenker der Jugend, vom Ephorus bis auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten sahen in Hans ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen müsse. Keiner, außer vielleicht jenem mitleidigen
Repetenten, sah hinter dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken. Und keiner dachte etwa daran, daß die Schule und der barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche Wesen so weit gebracht hatten. Warum hatte er in den empfindlichsten und
gefährlichsten Knabenjahren täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm seine Kaninchen weggenommen, ihn den Kameraden in der Lateinschule mit Absicht
entfremdet, ihm Angeln und Bummeln verboten und ihm das hohle, gemeine Ideal eines
schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft? Warum hatte man ihm selbst nach dem Examen die wohlverdienten Ferien nicht gegönnt? Nun lag das überhetzte Rößlein am Weg und war nicht mehr zu brauchen.
Gegen Sommersanfang erklärte der Oberamtsarzt nochmals, es handle sich um einen nervösen Schwächezustand, der hauptsächlich vom Wachsen herkomme. Hans solle sich in den Ferien
tüchtig herauspflegen lassen, genug essen und viel in den Wald laufen, so werde es sich schon bessern.
Leider kam es gar nicht so weit. Es war noch drei Wochen vor den Ferien, als Hans in einer Nachmittagslektion vom Professor heftig gescholten wurde. Während der Lehrer noch
weiterschimpfte, sank Hans in die Bank zurück, begann ängstlich zu zittern und brach in einen lang dauernden Weinkrampf aus, der die ganze Lektion unterbrach. Darauf lag er einen halben Tag im Bett.
Tags darauf wurde er in der Mathematikstunde aufgefordert, an der Wandtafel eine
geometrische Figur zu zeichnen und den Beweis dazu zu führen. Er trat heraus, aber vor der Tafel wurde ihm schwindlig; er fuhr mit Kreide und Lineal sinnlos in der Fläche herum, ließ beides fallen, und als er sich danach bückte, blieb er selber am Boden knien und konnte nicht wieder aufstehen.
Der Oberamtsarzt war ziemlich ärgerlich, daß sein Patient sich solche Streiche leistete. Er drückte sich vorsichtig aus, gebot sofortigen Erholungsurlaub und empfahl die Zuziehung eines Nervenarztes.
»Der kriegt noch den Veitstanz«, flüsterte er dem Ephorus zu, der mit dem Kopf nickte und es angezeigt fand, den ungnädig ärgerlichen Ausdruck seines Gesichts in einen väterlich
bedauernden abzuändern, was ihm leichtfiel und gut stand. Er und der Arzt schrieben je einen Brief an Hansens Vater, steckten ihn dem Jungen in die Tasche und schickten ihn nach Hause.
Der Ärger des Ephorus hatte sich in schwere Besorgnis verwandelt - was sollte die eben erst durch den Fall Heilner beunruhigte Schulbehörde von diesem neuen Unglück denken? Er
verzichtete sogar zum allgemeinen Erstaunen darauf, eine dem Vorfall entsprechende Rede zu halten, und war in den letzten Stunden gegen Hans von einer unheimlichen Leutseligkeit. Daß dieser aus dem Erholungsurlaub nicht zurückkehren würde, war ihm klar - auch im Fall der Genesung hätte der jetzt schon weit hintangebliebene Schüler die versäumten Monate oder auch nur Wochen unmöglich einholen können. Zwar verabschiedete er ihn mit einem ermunternd herzlichen »Auf Wiedersehen«, sooft er aber in der nächsten Zeit die Stube Hellas betrat und die drei leeren Pulte sah, ward ihm peinlich zumut und hatte er Mühe, den Gedanken in sich
niederzukämpfen, daß ihn am Verschwinden zweier begabter Zöglinge vielleicht doch ein Teil der Schuld treffen möge. Als einem tapferen und sittlich starken Manne gelang es ihm jedoch, diese unnützen und finstern Zweifel aus seiner Seele zu bannen. Hinter dem mit seinem kleinen Reisesack abfahrenden Seminaristen versank das Kloster mit Kirchen, Tor, Giebeln und Türmen, versanken Wald und Hügelfluchten, an ihrer Stelle tauchten die fruchtbaren Obstwiesen des badischen Grenzlandes auf, dann kam Pforzheim, und gleich dahinter fingen die bläulich
schwarzen Tannenberge des Schwarzwaldes an, von zahlreichen Bachtälern durchschnitten und in der heißen Sommerglut noch blauer, kühler und schattenverheißender als sonst. Der Junge betrachtete die wechselnde und sich immer
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