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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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eben noch im Livius gelesen hatte, vielleicht die Augen unbekannter Menschen, von denen er geträumt oder die er irgendeinmal auf Bildern gesehen hatte. »Giebenrath!« schrie der Professor. »Schlafen Sie denn?« Der Schüler schlug langsam die Augen auf, heftete sie erstaunt auf den Lehrer und schüttelte den Kopf. »Sie haben geschlafen!
    Oder können Sie mir sagen, an welchem Satz wir stehen? Nun?«
    Hans deutete mit dem Finger ins Buch, er wußte gut, wo man stand.
    »Wollen Sie jetzt vielleicht auch aufstehen?« fragte der Professor höhnisch. Und Hans stand auf.
    »Was treiben Sie denn? Sehen Sie mich an!« Er sah den Professor an. Diesem gefiel der Blick aber nicht, denn er schüttelte verwundert den Kopf. »Sind Sie unwohl, Giebenrath?« »Nein, Herr Professor.«
    »Setzen Sie sich wieder, und kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein Zimmer.«
    Hans setzte sich und bückte sich über seinen Livius. Er war ganz wach und verstand alles, zugleich folgte aber sein inneres Auge den vielen fremden Gestalten, die sich langsam in große Weiten entfernten und immer ihre glänzenden Augen auf ihn gerichtet hielten, bis sie ganz in der Weite in einem Nebel untersanken.
    Zugleich kam die Stimme des Lehrers und die des übersetzenden Schülers und alles kleine Geräusch des Lehrsaals immer näher und war schließlich wieder so wirklich und gegenwärtig wie sonst. Bänke, Katheder und Tafel standen da wie immer, an der Wand hing der große hölzerne Zirkel und der Reißwinkel, ringsum saßen alle Kameraden, und viele von ihnen schielten neugierig und frech zu ihm herüber. Da erschrak Hans heftig.
    »Kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein Zimmer«, hatte er sagen hören. Herrgott, was war denn passiert? Am Ende der Stunde winkte ihn der Professor zu sich und nahm ihn mit durch die glotzenden Kameraden hindurch. »Nun sagen Sie, was denn eigentlich mit Ihnen war? Geschlafen haben Sie also nicht?«
    »Nein.«
    »Warum sind Sie nicht aufgestanden, als ich Sie anrief?« »Ich weiß nicht.«
    »Oder haben Sie mich nicht gehört? Sind Sie schwerhörig?« »Nein. Ich habe Sie gehört.«
    »Und sind nicht aufgestanden? Sie hatten nachher auch so sonderbare Augen. An was dachten Sie denn?« »An nichts. Ich wollte schon aufstehen.« »Warum taten Sie es nicht? Waren Sie also doch unwohl?« »Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, was es war.« »Hatten Sie Kopfweh?« »Nein.«
    »Es ist gut. Gehen Sie.«
    Vor Tisch wurde er wieder abgerufen und in den Schlafsaal gebracht. Dort wartete der Ephorus mit dem Oberamtsarzt auf ihn. Er wurde untersucht und ausgefragt, doch kam nichts Klares zum Vorschein. Der Arzt lachte gutmütig und nahm die Sache leicht.
    »Das sind kleine Nervengeschichten, Herr Ephorus«, kicherte er sanft. »Ein vorübergehender Zustand von Schwäche - eine Art leichter Schwindel. Man muß sehen, daß der junge Mann täglich an die Luft kommt. Fürs Kopfweh kann ich ihm ein paar Tropfen verschreiben.« .
    Von da an mußte Hans täglich nach Tisch eine Stunde ins Freie. Er hatte nichts dagegen.
    Schlimmer war es, daß der Ephorus ihm Heilners Begleitung auf diesen Spaziergängen
    ausdrücklich verbot. Dieser wütete und schimpfte, mußte jedoch nachgeben. So ging Hans stets allein und fand eine gewisse Freude daran. Es war Frühlingsbeginn. Über die runden,
    schöngewölbten Hügel lief wie eine dünne, lichte Welle das keimende Grün, die Bäume legten ihre Wintergestalt, das braune Netzwerk mit den scharfen Umrissen, ab und verloren sich mit jungem Blätterspiel ineinander und in die Farben der Landschaft als eine unbegrenzte, fließende Woge von lebendigem Grün. Früher, in den Lateinschuljahren, hatte Hans den Frühling anders als diesmal betrachtet, lebhafter und neugieriger und mehr im einzelnen. Er hatte die
    zurückkehrenden Vögel beobachtet, eine Gattung um die andere, und die Reihenfolge der
    Baumblüte, und dann, sobald es Mai war, hatte er zu angeln begonnen. Jetzt gab er sich keine Mühe, die Vogelarten zu unterscheiden oder die Sträucher an ihren Knospen zu erkennen. Er sah nur das allgemeine Treiben, die überall sprossenden Farben, atmete den Geruch des jungen Laubes, spürte die weichere und gärende Luft und ging verwundert durch die Felder. Er
    ermüdete bald, hatte immer eine Neigung, zu liegen und einzuschlafen, und sah fast fortwährend allerlei andere Dinge, als die ihn wirklich umgaben. Was es eigentlich für Dinge waren, wußte er selbst nicht, und er besann sich nicht darüber. Es

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