Unterm Rad
mit und hörte dem frommen Pietisten ohne rechte Aufmerksamkeit zu. Flaig sprach vom
Examen, wünschte dem Jungen Glück und sprach ihm Mut zu, der Endzweck seiner Rede war
aber, darauf hinzuweisen, daß so ein Examen doch nur etwas Äußerliches und Zufälliges sei.
Durchzufallen sei keine Schande, das könne dem Besten passieren, und falls es ihm so gehen sollte, möge er bedenken, daß Gott mit jeder Seele seine besondern Absichten habe und sie eigene Wege führe.
Hans hatte dem Manne gegenüber kein ganz sauberes Gewissen. Er fühlte eine Hochachtung für ihn und sein sicheres, imponierendes Wesen, dennoch hatte er über die Stundenbrüder so viele Witze gehört und darüber mitgelacht, oft gegen sein besseres Wissen; außerdem hatte er sich seiner Feigheit zu schämen, denn seit einer gewissen Zeit mied er den Schuster fast ängstlich, seiner scharfen Fragen wegen. Seit er der Stolz seiner Lehrer und selber ein wenig hochmütig geworden war, hatte der Meister Flaig ihn oft so komisch angesehen und zu demütigen
versucht. Darüber war dem wohlmeinenden Führer die Seele des Knaben allmählich entglitten, denn Hans stand in der Blüte des Knabentrotzes und hatte feine Fühler für jede unliebsame Berührung seines Selbstbewußtseins. Nun schritt er neben dem Redenden hin und wußte nicht, wie besorgt und gütig ihn dieser von oben beschaute.
In der Kronengasse begegneten sie dem Stadtpfarrer. Der Schuster grüßte gemessen und kühl und hatte es plötzlich eilig, denn der Stadtpfarrer war ein Neumodischer und stand im Ruf, er glaube nicht einmal an die Auferstehung. Dieser nahm den Knaben mit sich.
»Wie geht's?« fragte er. »Du wirst froh sein, daß es jetzt soweit ist.«
»Ja, 's ist mir schon recht.«
»Nun, halte dich gut! Du weißt, daß wir alle Hoffnungen auf dich setzen. Im Latein erwarte ich eine besondere Leistung von dir.«
»Wenn ich aber durchfalle«, meinte Hans schüchtern. »Durchfallen?!« Der Geistliche blieb ganz erschrocken stehen.
»Durchfallen ist einfach unmöglich. Einfach unmöglich! Sind das Gedanken!«
»Ich meine nur, es könnte ja doch sein...« »Es kann nicht, Hans, es kann nicht; darüber sei ganz beruhigt. Und nun grüß mir deinen Papa, und sei mutig!« Hans sah ihm nach; dann schaute er sich nach dem Schuhmacher um. Was hatte er doch gesagt? Aufs Latein käme es nicht so sehr an, wenn man nur das Herz aufm rechten Fleck habe und Gott fürchte. Der hatte gut reden. Und nun noch der Stadtpfarrer! Vor dem konnte er sich überhaupt nimmer sehen lassen, wenn er
durchfiel.
Bedrückt schlich er nach Hause und in den kleinen, abschüssigen Garten. Hier stand ein
morsches, längst nicht mehr benutztes Gartenhäuschen; darin hatte er seinerzeit einen
Bretterstall gezimmert und drei Jahre lang Kaninchen drin gehabt. Im vorigen Herbst waren sie ihm weggenommen worden, des Examens wegen. Er hatte keine Zeit mehr für Zerstreuungen
gehabt. Auch im Garten war er schon lang nicht mehr gewesen. Der leere Verschlag sah baufällig aus, die Tropfsteingruppe in der Mauerecke war zusammengefallen, das kleine, hölzerne
Wasserrädchen lag verbogen und zerbrochen neben der Wasserleitung. Er dachte an die Zeit, da er das alles gebaut und geschnitzt und seine Freude daran gehabt hatte. Es war auch schon zwei Jahre her - eine ganze Ewigkeit. Er hob das Rädchen auf, bog daran herum, zerbrach es vollends und warf es über den Zaun. Fort mit dem Zeug, das war ja alles schon lang aus und vorbei. Dabei fiel ihm sein Schulfreund August ein. Der hatte ihm geholfen, das Wasserrad zu bauen und den Hasenstall zu flicken. Nachmittage lang hatten sie hier gespielt, mit der Schleuder geschossen, den Katzen nachgestellt, Zelte gebaut und zum Vesper rohe gelbe Rüben
gegessen. Dann war aber die Streberei losgegangen, und August war vor einem Jahr aus der Schule getreten und Mechanikerlehrling geworden. Er hatte sich seither nur noch zweimal gezeigt. Freilich, auch der hatte jetzt keine Zeit mehr. Wolkenschatten liefen eilig übers Tal, die Sonne stand schon nahe am Bergrand. Einen Augenblick hatte der Knabe das Gefühl, er müsse sich hinwerfen und heulen. Statt dessen holte er aus der Remise das Handbeil, schwang es mit den schmächtigen Ärmlein durch die Luft und hieb den Kaninchenstall in hundert Stücke. Die Latten flogen auseinander, die Nägel bogen sich knirschend, ein wenig verfaultes Hasenfutter, noch vom vorjährigen Sommer, kam zum Vorschein. Er hieb auf das alles los, als könnte er
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