Unterm Rad
sich mit den einhundertundsiebzehn Kameraden im Examen sitzen, der Prüfende sah bald dem Stadtpfarrer zu Haus, bald der Tante ähnlich und häufte vor ihm Berge von Schokolade auf, die er essen sollte. Und während er unter Tränen aß, sah er die übrigen einen um den anderen aufstehen und durch eine kleine Türe verschwinden. Alle hatten ihren Berg gegessen, seiner aber wurde unter seinen Augen größer und größer, quoll über Tisch und Bank und schien ihn ersticken zu wollen. Am folgenden Morgen, während Hans Kaffee trank und die Uhr nicht aus den Augen ließ, um ja nicht zu spät in die Prüfung zu kommen, wurde seiner im Heimatstädtchen von vielen gedacht. Zuerst vom Schuhmacher Flaig; der sprach vor der Morgensuppe sein Gebet, die
Familie samt den Gesellen und beiden Lehrlingen stand im Kreis um den Tisch, und seinem gewöhnlichen Frühgebet fügte der Meister heute die Worte bei: »O Herr, halte deine Hand auch über den Schüler Hans Giebenrath, der heute ins Examen tritt, segne und stärke ihn, und laß ihn einmal einen rechten und wackeren Verkündiger deines göttlichen Namens werden!«
Der Stadtpfarrer betete zwar nicht für ihn, sagte aber beim Frühstück zu seiner Frau: »Jetzt geht der Giebenrathle ins Examen. Aus dem wird noch was Besonderes; man wird schon auf ihn aufmerksam werden, und dann schadet es nichts, daß ich ihm mit den Lateinstunden
beigesprungen bin.« Der Klassenlehrer, ehe er die Stunde begann, sagte zu seinen Schülern: »So, jetzt fängt in Stuttgart das Landexamen an, und wir wollen dem Giebenrath alles Gute wünschen.
Nötig hat er's zwar nicht, denn von solchen Faulpelzen, wie ihr seid, steckt er seine zehn in den Sack.« Und auch die Schüler dachten nun fast alle an den Abwesenden, namentlich aber die vielen, die auf sein Durchkommen oder Durchfallen untereinander Wetten abgeschlossen hatten.
Und da denn herzliche Fürbitte und innige Teilnahme mit Leichtigkeit über große Strecken hinweg in die Ferne wirken, bekam auch Hans es zu spüren, daß man zu Hause an ihn dachte. Zwar ging er mit Herzklopfen, von seinem Vater begleitet, in den Prüfungssaal, folgte scheu und
erschrocken den Anweisungen des Famulus und schaute sich in dem großen, von blassen
Knaben erfüllten Räume um wie ein Verbrecher in der Folterkammer. Als aber der Professor gekommen war, Ruhe gebot und den Text zur lateinischen Stilübung diktierte, fand Hans
aufatmend dieselbe lächerlich leicht. Rasch und fast fröhlich machte er sein Konzept, schrieb es dann bedächtig und sauber ins reine und war einer von den ersten, die ihre Arbeit ablieferten.
Zwar verfehlte er darauf den Weg zum Haus der Tante und irrte zwei Stunden in den heißen Stadtstraßen umher, doch störte ihm das sein wiedergefundenes Gleichgewicht nicht erheblich; er war sogar froh, der Tante und dem Vater noch für eine Weile zu entrinnen, und kam sich, durch die fremden, lärmigen Residenzstraßen wandernd, wie ein waghalsiger Abenteurer vor. Als er sich endlich mit Mühe durchgefragt und heimgefunden hatte, wurde er mit Fragen bestürmt.
»Wie ist's gegangen? Wie ist's gewesen? Hast du dein Sach gekonnt?«
»Leicht ist's gewesen«, sagte er stolz, »das hätt' ich in der fünften Klasse schon übersetzen können.« Und er aß mit redlichem Hunger.
Den Nachmittag hatte er frei. Der Papa schleppte ihn bei einigen Verwandten und Freunden herum. Bei einem derselben fanden sie einen schwarzgekleideten schüchternen Buben, der von Göppingen hergekommen war, ebenfalls um das Landexamen zu machen. Die Knaben blieben
sich selbst überlassen und sahen einander scheu und neugierig an. »Wie ist dir die lateinische Arbeit vorgekommen? Leicht, nicht wahr?« fragte Hans.
»Riesig leicht. Aber das ist gerade der Kasus, in leichten Arbeiten macht man die meisten Schnitzer. Man paßt nicht auf. Und verborgene Fallen werden schon auch drin gewesen sein.«
»Meinst du?«
»Natürlich. So dummm sind die Herren nicht.« Hans erschrak ein wenig und wurde nachdenklich.
Dann fragte er zaghaft: »Hast du den Text noch da?«
Der andere brachte sein Heft, und nun nahmen sie zusammen die ganze Arbeit durch, Wort für Wort. Der Göppinger schien ein raffinierter Lateiner zu sein, wenigstens gebrauchte er zweimal grammatikalische Bezeichnungen, die Hans überhaupt noch nie gehört hatte.
»Und was kommt wohl morgen dran?«
»Griechisch und Aufsatz.«
Dann erkundigte sich der Göppinger, wieviel Examinanden aus Hansens Schule gekommen
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