Unterwelt
die Augen über die Menge wandern. Arbeiter, Ladenbesitzer, vielleicht einige Streuner und Hausbesetzer, aber nicht viele, und dann bemerkt sie eine Gruppe weiter vorn, genau in die Bugform der Insel eingepaßt – das sind die Charismatiker aus dem obersten Stock des Hauses an der Mauer, sie sind überwiegend in wallendes Weiß gekleidet, röhrenförmige Frauen, gertenschlanke Männer mit Dreadlocks. Die Menge ist geduldig, sie selbst ist es nicht, sie merkt, wie verkrampft sie ist vor bösen Ahnungen, wie sie Gracies Haltung zu der ganzen Angelegenheit in sich aufnimmt. Flugzeuge fallen aus dem Dunkel auf den Flughafen zu, quer übers Wasser, zerteilen die Luft mit gedrosseltem Dröhnen. Die Nonnen sehen Ismael, er steht inmitten seiner Crew, dreißig Meter entfernt – Ismael, der in den hin und her schwingenden Lichtstrahlen etwas gespenstisch aussieht –, und Edgar durchbohrt Gracie mit einem wissenden Blick. Sie stehen da und betrachten die Plakatwand. Sie starren dämlich auf den Saft. Nach zwanzig Minuten ein Rascheln, eine Art Wind der Wahrnehmung, und die Leute schauen gen Norden, Kinder zeigen gen Norden, und Edgar bemüht sich mitzukriegen, was sie sehen. Der Zug.
Sie spürt die Worte, bevor sie ihn überhaupt sieht. Sie spürt die Worte, obgleich keiner sie gesagt hat. So bringt eine Menschenmenge Dinge zu einem gemeinsamen Bewußtsein zusammen. Dann sieht sie ihn, einen gewöhnlichen Pendlerzug, silbern und blau, ohne Graffiti, der auf die Zugbrücke zugleitet. Die Scheinwerfer wischen über die Plakatwand, und sie hört einen Laut aus der Menge, ein Keuchen, das sich in Schluchzen und Stöhnen und dem Aufschrei einer unsagbar schmerzlichen Wonne entlädt. Ein hervorsprudelndes Juchzen, das Aufheulen ungehemmten Glaubens. Denn als die Zuglichter auf den dunkelsten Teil der Plakatwand treffen, erscheint ein Gesicht über dem dunstigen See, und es gehört dem ermordeten Mädchen. Ein Dutzend Frauen greift sich an den Kopf, sie jauchzen und schluchzen, ein Geist, ein Gottesatem weht durch die Menge.
Esmeralda.
Esmeralda.
Schwester Edgar steht unter Schock. Sie hat es gesehen, aber so flüchtig, zu schnell zum Aufnehmen – sie möchte, daß das Mädchen wieder erscheint. Frauen strecken dem Plakat Säuglinge entgegen, dem strömenden Saft, möge er sie in Taufbalsam und Öl baden. Und Gracie redet auf Edgar ein, in das Stimmengewirr und Getöse hinein.
»Hat das ausgesehen wie sie?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Ich glaube schon«, sagt Edgar.
»Aber du hast sie nie aus der Nähe gesehen. Ich habe sie aus der Nähe gesehen«, sagt Gracie, »und ich glaube, es war eine Lichttäuschung. Gar kein Mensch. Gar kein Gesicht, nur ein Lichtfleck.«
Wenn Gracie ihre Spange trägt, spricht sie mit einem zischelnden Lispeln.
»Das ist nur das Plakat darunter«, sagt sie. »Ein technischer Fehler, der dazu führt, daß das Bild darunter, das Bild der überklebten Reklame, durch die neue Reklame hindurchscheint.«
Hat sie recht?
»Wenn genug Licht auf die derzeitige Reklame scheint, führt es dazu, daß man das Bild darunter sehen kann«, sagt sie.
Zischellaute sprühen zwischen Gracies Zähnen hervor.
Aber hat sie recht? Haben die Nachrichten ihre Abhängigkeit von den Agenturen, die sie berichten, abgeschüttelt? Erfinden sich die Nachrichten selbst, auf den Augäpfeln laufender, sprechender Menschen?
Edgar mustert die Plakatwand. Und wenn es gar keine überklebte Reklame gibt? Warum sollte unter der Orangensaftreklame eine andere Reklame sein? Bestimmt entfernen die doch ein Plakat, bevor das nächste draufkommt.
Gracie sagt, »Was jetzt?«
Sie stehen da und warten. Diesmal warten sie nur acht oder neun Minuten, bevor der nächste Zug sich nähert. Edgar ist in Bewegung, sie versucht, sich nach vorn zu schlängeln, vorsichtig zu drängeln, und die Leute machen Platz, sie sehen sie – eine Nonne in Schleier und vollem Habit und dunklem Cape, gefolgt von einer linkischen Gefährtin in einem Mantel aus dem Ramsch und einem Kopftuch, und die reckt ein Handy.
Sie sehen sie und umarmen sie, und sie läßt es zu. Ihre Gegenwart ist eine beglaubigende Kraft – eine Gestalt von einer universellen Kirche mit Sakramenten und geheimen Bankkonten und einer traumhaften Kunstsammlung. All das, und sie beschließt, einen Weg der Armut, Keuschheit und Gehorsamkeit zu beschreiten. Sie umarmen sie und lassen sie durch, und sie erreicht die Charismatikergruppe, die Evangeliumsänger schaukeln vor und zurück, als
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