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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Refektorium sitzt Edgar Gracie gegenüber. Sie ißt ihr Essen, ohne es zu schmecken, denn sie hat Vorjahren beschlossen, daß es nicht darum geht, wie es schmeckt. Sondern darum, den Teller leer zu essen.
    Gracie sagt, »Nein, bitte, das kannst du nicht.«
    »Nur mal sehen.«
    »Nein, nein, nein, nein.«
    »Ich will es selber sehen.«
    »Das ist Sensationsmache. Die übelste Sorte Aberglaube, wie in der Regenbogenpresse. Grauenhaft. Ein völliger, was denn? Ein völliger Verzicht, verstehst du ? Sei vernünftig. Verzichte nicht freiwillig auf deine Vernunft.«
    »Vielleicht sehen sie aber wirklich das Mädchen.«
    »Weißt du, was das ist? Das ist typisch Spätnachrichten. Die lokalen Nachrichten um elf, wo alle grotesken Stories hübsch verteilt werden, damit du auch die ganze halbe Stunde dranbleibst.«
    »Ich glaube, ich muß da hin«, sagt Edgar.
    »Das ist etwas für die Armen, sollen die sich dem aussetzen, es einschätzen und begreifen, in diesem Zusammenhang müssen wir das Ganze sehen. Die Armen brauchen Visionen, klar?«
    »Ich glaube, du sprichst herablassend über die Menschen, die du liebst«, sagt Edgar leise.
    »Das ist nicht fair.«
    »Du sagst die Armen. Wem sollen Heilige denn sonst erscheinen? Erscheinen Heilige und Engel etwa Bankdirektoren? Iß deine Möhren.«
    »Spätnachrichten. Die widerliche Ausbeutung eines grauenhaften Kindermordes.«
    »Wer beutet denn aus? Keiner beutet aus«, sagt Edgar. »Die Leute gehen dorthin, um zu weinen, um zu glauben.«
    »So werden Nachrichten dermaßen mächtig, daß sie weder Fernsehen noch Zeitungen brauchen. Sie existieren nur noch in der Wahrnehmung der Leute. Sie erfinden sie, das ist stark genug, um als Wirklichkeit zu erscheinen. Das sind Nachrichten ohne Medien.«
    Edgar ißt ihr Brot.
    »Ich bin älter als der Papst. Ich hätte nie gedacht, daß ich lange genug leben würde, um älter zu werden als ein Papst, und ich glaube, ich muß mir das einfach ansehen.«
    »Bilder lügen«, sagt Gracie.
    »Ich glaube, ich muß dort sein.«
    »Betet keine Bilder an, sondern Heilige.«
    »Ich glaube, ich muß hingehen.«
    »Das kannst du doch nicht. Das ist verrückt. Geh nicht, Schwester.«
    Aber Edgar geht. Sie zieht ihre Latexhandschuhe und ihr Wintercape an und strebt zur Tür, sie hat vor, Bus und U-Bahn zu nehmen, und Gracie kann sie nicht allein gehen lassen. Sie hetzt nach draußen zu dem Kleinbus, trägt noch ihre Zahnspange für die Lücken, sie trägt sie nie in der Öffentlichkeit, und sie fahren hinunter, an der Mauer vorbei und durch dunkle, leere Straßen, und der Kleinbus bleibt mit einem murmelnden Schwächeanfall stehen, und die letzten elf Straßen laufen sie zu Fuß, Gracie bewaffnet mit K.-o.-Spray und Handy.
    Ein Mond in Krapporange hängt über der Stadt.
    Menschen im blendenden Licht vorbeifahrender Autos, Hunderte auf der Insel zusammengeballt, ihre eigenen Autos schief und schielend geparkt, in gefährlicher Nähe zum rasenden Verkehr. Die Nonnen stürmen über den Boulevard und quetschen sich auf die Insel, und die Leute machen ihnen Platz, zusammengedrängte Menschenmassen tun sich auf, damit sie bequem stehen können.
    Sie folgen dem aufgeheizten Starren der Menge. Sie stehen da und schauen. Die Plakatwand ist ungleichmäßig beleuchtet, stellenweise trübe, mehrere Birnen sind durchgebrannt und nicht erneuert worden, aber die Hauptelemente sind deutlich erkennbar, eine breite Kaskade Orangensaft ergießt sich diagonal von oben rechts in eine Karaffe, von einer Hand links unten gehalten – die perfekt geformte Hand einer weißen Frau aus einem Mittelklassevorort. Ferne Weiden und ein verschwommener Seeblick legen den sozialen Rahmen fest. Aber der Saft zieht das Auge an, dick und fruchtfleischig, und seine Rötelglut paßt zu dem Krappmond. Die ersten, einzeln gemalten Tropfen spritzen nebelsprühend auf den Boden der Karaffe, jeder Klacks ist mit der Pedanterie eines puristischen Gemäldes ausgeführt. Welche Verschwendung von Mühe und Technik, an keiner Raffinesse gespart – das Gegenstück, denkt Edgar, zu mittelalterlicher Kirchenbaukunst. Und die kleinen Minute-Maid-Dosen, die am Boden des Plakates aufgereiht stehen, hundert identische Dosen, so vertraut in Design, Farbe und Schrifttype, daß sie Persönlichkeit haben, die niedliche Geselligkeit kleiner orangeschwarzer Männchen.
    Edgar weiß nicht, wie lange sie warten sollen oder was genau passieren soll. Transportlaster fahren in der rumpelnden Dämmerung vorbei. Sie läßt

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