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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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die Scheinwerfer des Zuges ihre Strahlen auf die Plakatwand richten. Sie sieht Esmeraldas Gesicht, das unter dem Regenbogen des üppig fließenden Saftes Gestalt annimmt, über dem kleinen Vorortsee, und man meint zu spüren, daß jemand in dem Bild lebt, ein beseelender Geist – weniger als eine zarte Sekunde Lebenszeit, weniger als eine halbe Sekunde, und die Stelle ist wieder dunkel.
    Sie spürt, wie etwas über sie hereinbricht. Ein Angelus der hellsten Freude. Sie umarmt Schwester Grace. Sie reißt sich die Handschuhe herunter und drückt Hände, schüttelt die Hände der vollbusigen Frauen, die ihre Augen gen Himmel rollen. Die Frauen vollführen großes, beidhändiges Schüttelhändedrücken, vorgefertigte Wörter springen ihnen aus den Mündern, Trancegerede – sie singen von Dingen außerhalb der bekannten Delirien. Edgar boxt einem Mann mit den Fäusten auf die Brust. Sie entdeckt Ismael und umarmt ihn. Sie schaut ihm in die Augen und atmet die Luft, die er atmet, und umschlingt ihn mit ihrem gewaschenen Gewand. Alles fühlt sich ganz nah an, bricht über sie herein, Traurigkeit und Verlust und Gloria und das nackte Mitleid einer alten Mutter und eine Macht in einer tiefen Schicht der Klage, die ihr das Gefühl gibt, untrennbar mit den Schüttlern und Trauernden verbunden zu sein, den von Ehrfurcht Ergriffenen, die im flutenden Verkehr stehen – einen Augenblick lang ist sie namenlos, aller Einzelheiten der persönlichen Geschichte enthoben, eine körperlose Tatsache in flüssiger Form, die sich in die Menge ergießt.
    Gracie sagt, »Ich weiß nicht.«
    »Natürlich weißt du. Du weißt es. Du hast sie gesehen.«
    »Ich weiß nicht. Es war ein Schatten.«
    »Esmeralda auf dem See.«
    »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe.«
    »Du weißt es. Natürlich weißt du es. Du hast sie gesehen.«
    Sie warten auf weitere Züge. Landelichter erscheinen am Himmel, und die Flugzeuge fallen weiter auf die Landebahn zu, quer übers Wasser, alle anderthalb Minuten ein Flug, das zurückrauschende Dröhnen geht ineinander über, so daß alles nahtloser Lärm ist, und die Luft stinkt nach qualmigem Kerosin.
    Sie warten auf einen letzten Zug.
    Wie gehen Dinge schließlich zu Ende, Dinge wie dies hier – versickern sie zu einem vergessenen Häuflein müder Gläubiger, die sich im Regen zusammendrängen?
    Am nächsten Abend füllen tausend Menschen die Gegend. Sie parken ihre Autos auf dem Boulevard und versuchen, sich auf die Verkehrsinsel vorzudrängein und zu rempeln, aber die meisten müssen auf der Kriechspur der Schnellstraße stehenbleiben, ungebärdig und gespannt. Eine Frau wird von einem Motorrad erfaßt und zu Boden geschleudert. Ein Junge wird hundert Meter weit, es sind immer hundert Meter, von einem Auto mitgeschleift, das einfach weiterfährt. Fliegende Verkäufer laufen an den Schlangen des stehenden Verkehrs entlang und verkaufen Blumen, Softdrinks und lebende junge Kätzchen. Sie verkaufen eingeschweißte Bilder von Esmeralda auf Gebetskarten. Sie verkaufen Windmühlen, die niemals aufhören, sich zu drehen.
    Am Abend danach taucht die Mutter auf, Esmeraldas verlorengegangene Junkiemutter, und sie bricht mit rudernden Armen zusammen, als das Gesicht des Mädchens auf der Werbetafel erscheint. Sie bringen sie in einem Krankenwagen fort, dem eine Reihe von Fernsehteams in Kleinbussen folgt. Zwei Männer kämpfen mit Kreuzschlüsseln gegeneinander und blockieren den Verkehr auf einer Auffahrt. Helikopterkameras halten die Szene fest, und die Polizei zieht orangefarbenes Warnband um die ganze Gegend – genau das Orange des lebendigen Orangensaftes.
    Am nächsten Abend ist die Plakatwand leer. Was für ein Loch im Raum. Die Leute kommen und wissen nicht, was sie sagen oder denken sollen, wo sie hinschauen und was sie glauben sollen. Die Plakatwand ist eine weiße Fläche mit zwei einsamen Wörtern, Freie Werbefläche, gefolgt von einer Telefonnummer in geschmackvoller Schrifttype.
    Als der erste Zug kommt, in der Dämmerung, zeigen die Lichter nichts.
    Und woran erinnerst du dich schließlich, wenn alle nach Hause gegangen sind, die Straßen aller Inbrunst und Hoffnung entleert, vom Flußwind verweht? Ist die Erinnerung dünn und bitter, beschämt sie dich mit ihrer fundamentalen Unwahrheit – alles Nuance und Wunschsilhouette? Oder hält die Kraft der Transzendenz an, der Nachgeschmack eines Ereignisses, das die natürlichen Mächte vergewaltigt, etwas Heiliges, das am heißen Horizont atmet, die Vision,

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